© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Immer mehr Zweifel am Lockdown
Corona-Krise: Studien erhärten Skepsis, was die Wirksamkeit von Lockdowns angeht / Internationaler Vergleich lohnt / Deutschland fährt auf Sicht
Mathias Pellack

Was erste US-Staaten schon vor Monaten versuchten, will nun auch das Saarland probieren: einen sicheren Weg aus dem Lockdown-Marathon und der Pandemie abseits der angstgetriebenen Öffentlichkeit suchen. Wenngleich es höchst fragwürdig ist, die Öffnungen an negative Schnelltest-Ergebnisse zu knüpfen und so Bedingungen für Freiheitsrechte festzuschreiben, so ist der Strategiewechsel doch ein Zeichen der Hoffnung, daß bald wieder mehr Ratio bei der Wahl der Maßnahmen Einzug hielte. Die immer wieder vor allem von der Bundesregierung und der Union vorangetriebenen Mittel wie Lockdown, allgemeine Geschäftsschließungen, Maskenpflicht im Freien oder die einseitige Gängelung der Privatleute, während Großraumbüros voll besetzt sein können, sind teils politisch, teils wissenschaftlich schlecht begründet.

Es ist nicht klar kommuniziert worden, warum die Bürger für bald ein halbes Jahr darauf verzichten müssen, Freunde und Verwandte zu treffen oder ins Kino zu gehen, während Arbeitgeber mit vielen Beschäftigten lediglich gebeten wurden, kontaktarme Homeoffice-Lösungen zu ermöglichen. Denn laut einer Studie der TU Berlin erreicht das Coronavirus in Mehrpersonenbüros selbst bei auf die Hälfte reduzierter Belegung einen Ansteckungswert von acht. In einer halbvollen Kulturstätte (Oper, Museum, Theater) liegt der R-Wert dagegen bei 1,2 – die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung ist dort fast um den Faktor 8 geringer (siehe Anmerkung 1).

Mobilität stark reduziert, dennoch viele Corona-Tote

Problematisch ist weiterhin der generelle Lockdown, der nach einem Jahr immer noch einer soliden wissenschaftlichen Grundlage entbehrt. Brasilianische Mediziner und Datenwissenschaftler haben in einer im Fachblatt Nature veröffentlichten vergleichenden Studie sogar explizit „keine signifikanten Auswirkungen der Stay-at-home-Maßnahmen“ finden können (siehe Anmerkung 2). Die Spezialisten für Datenverarbeitung nutzten für die Überprüfung der Maßnahmen-Effektivität veröffentlichte Bewegungsdaten von Google, die die Mobilität von Menschen in einer Region anhand von Mobilfunkdaten zeigen. Die Frage, wie gut Maßnahmen durchgesetzt werden können, entfällt damit.

Die Studie zeigt, daß Tschechen sich sehr stark in ihren Bewegungen eingeschränkt haben (Grafik: Mobilitätstrends für Einkaufs- und Freizeitorte). Trotzdem hat die Bevölkerung unseres kleinen Nachbarlandes sehr viele Covid-Tote anteilig zur Einwohnerzahl zu beklagen, auch im weltweiten Vergleich. Das immer noch offene Schweden, das für den Winter zwar auch auf einige wenige Einschränkungen gesetzt hat – Geschäfte dürfen nur eine begrenzte Zahl an Kunden einlassen, Großveranstaltungen sind ausgesetzt –, liegt derweil in der Pandemiehochzeit 2020/21 hinsichtlich der Todeszahlen anteilig zur Bevölkerung auf einer Linie mit Deutschland. Deutschland aber befindet sich seit 2. November wieder im Teil-Lockdown. Im Vergleich über die gesamte Pandemiezeit hatte Schweden zwar mehr Todesopfer zu beklagen, aber das läßt sich gut auf den anfänglich schlechten Schutz der Altenheime zurückführen.

Berlin mischt sich massiv in die Belange der Länder ein

Weitere Beispiele, die die Effektivität des Lockdown zweifelhaft erscheinen lassen, sind mehrere US-Bundesstaaten, unter anderem Florida und Kalifornien. Floridas republikanischer Gouverneur Ron DeSantis entschied im Herbst 2020, sein Bundesstaat werde erst bei höheren Inzidenzen als die Mehrheit der Bundesstaaten in den Lockdown gehen. DeSantis nahm sogar die Maskenpflicht zurück, die auch in den USA von einer breiten Mehrheit befürwortet und erwartet wird. Er ließ die Schulen offen und erntete auch dafür Kritik. Letztlich hielt er nur an einer Maßnahme fest: Pflegeheime waren für Besucher tabu. All das bei einer Bevölkerung, die wegen ihres höheren Durchschnittsalters – Floridas Bewohner sind im Schnitt über fünf Jahre älter als die Kaliforniens – eigentlich stärker gefährdet sein sollte.

Die Zahlen geben derweil DeSantis recht. Die wöchentlichen Covid-19-Todesfälle verlaufen in ähnlichen Kurven: Die Gesamtzahl der Opfer anteilig zur Bevölkerung summiert sich in Florida auf 151 pro 100.000, in Kalifornien auf 140. 17 weitere Bundesstaaten haben sich seither angeschlossen und haben einige oder wie Texas alle staatlichen Maßnahmen zurückgenommen. DeSan­tis’ Beliebtheitswerte steigen seither. Viele Republikaner sehen in ihm den nächsten Präsidentschaftskandidaten.

Der Strom an Kritik am Lockdown reißt aber nicht ab. Auch die Studie des Stanford-Gesundheitswissenschaftlers und Statistikers John Ioannidis zeigt, daß ein harter Lockdown in der ersten Welle der Pandemie kaum einen Gewinn gebracht hat im Vergleich mit der allgemeinen Forderung, die sogenannten AHA-Regeln einzuhalten: Abstand, Hygiene und Alltagsmaske. Ioannidis’ Untersuchung bescheinigt allerdings auch der Aussetzung von Großveranstaltungen nur einen geringen Effekt, die in anderen Studien deutlich stärker abschneidet. Daß Ioannidis nun von vielen vor allem deshalb kritisiert wird, weil seine Erkenntnisse von jenen, die gegen Maßnahmen sind und als Corona-Leugner geschmäht werden, aufgegriffen werden, zeigt nur, wie politisiert die Debatte um den richtigen Weg aus der Corona-Krise ist.

Warum sich in Deutschland die Bundeskanzlerin wieder und wieder in die Belange der Länder einmischt und diese auf eine meist harte und geschlossene Linie einschwört, ist nach dem Vergleich mit den ebenfalls föderalistisch organisierten USA in einiger Hinsicht unverständlich. Während die US-Staaten unterschiedliche Ansätze nutzen, um ihre Bevölkerung nach bestem Wissen vor dem Virus und einer unnötigen Belastung durch Maßnahmen zu schützen – und so gleichzeitig wichtige Vergleichsdaten für die Wissenschaft liefern –, tappen Deutschlands Politiker weiterhin im dunkeln – oder um es mit den Worten der Kanzlerin zu sagen: „Wir fahren hierzulande auf Sicht“ – und leider in Kolonne. Und das, obwohl auch Deutschland, unter anderem der Bundestag, Studien zum Umgang mit einer Pandemie auf Lager hatte.

Deutschland verfolgt weiter die chinesische Methode 

Viele sehen eine Impfung als die effektivste Bekämpfung einer Viruserkrankung. Auch hier sind die USA vorbildhaft. Unter dem Titel „Mit innovativen Impfstoffen Grippe-Pandemien entschärfen“ war noch im Herbst 2019 eine Studie des Nationalen Sicherheitsrats veröffentlicht worden, die letztlich in die Umsetzung der „Operation Warp Speed“ mündete. Ex-Präsident Donald Trump verkündete ihn großspurig, setzte damit bereits im Mai 2020 zehn Milliarden Dollar frei, um nicht nur die Forschung zu erleichtern, – was die deutsche Bundesregierung im September dann auch begann –, sondern auch um alles um die Impfung herum zu ermöglichen. Spritzen wurden bestellt, Phiolen für den Impfstoff und Kanülen. Und natürlich wurden Pläne gemacht, wie die Impfungen zu organisieren seien. Während hierzulande die Zulassungsbehörde, das Paul-Ehrlich-Institut, potentiellen Impfstoff-Entwicklern mit Klagen das Leben schwermacht (Lübecker Impfstoff, JF 13/21), hatte das amerikanische Gegenüber, die FDA, auf politische Anregung selbst mögliche Hersteller kontaktiert, wie die FAZ berichtete. Die Amerikaner hatten erkannt: Geschwindigkeit in Entwicklung und Verteilung ist alles. Das Verhalten der Bevölkerung könnte man – so zeigte die Bekämpfung von Aids – nicht ausreichend und nicht schnell genug stark ändern.

Deutschland indes versucht weiterhin, den chinesischen Ansatz „Lockdown“ zu verfolgen. Das halbherzige Wegschließen wird unterstützt durch eine lückenhafte Nachverfolgung durch Gesundheitsämter, weil den dortigen Beamten beispielsweise erlaubt wurde, zur Zeit der höchsten Inzidenzen in den Weihnachtsurlaub zu gehen. So entstand ein Datenstau, der fast einen Monat nicht entzerrt werden konnte. Von den nicht kompatiblen Softwaresystemen in den einzelnen Ämtern, die die Weiterleitung zu einem Kraftakt machen, noch gar nicht zu reden. Daß diese Maßnahmen wirken, „erscheint offensichtlich“ schreibt das RKI. Eine Studie, die das belegen soll, ist erst sei Anfang 2021 in Erstellung.

Daß nun sogar EU-Länder wie Österreich Abstand von einer allzu nahen Bindung der Lockdown-Maßnahmen an den Inzidenzwert nehmen, ist ein zweites Hoffnungszeichen für eine Abkehr von der Politik des vergangenen Jahres. Das ist nicht nur sinnvoll wegen der mangelhaften Steuerbarkeit des Infektionsgeschehens, sondern auch, weil mit jeder Impfung die Aussagekraft der Inzidenz über die Gefährlichkeit des Virus schwächer wird. Die Wahrscheinlichkeit, daß Sars-CoV-2 auf unvorbereitete und zu schwache Immunsysteme trifft, nimmt mit jedem Impfschuß ab. Das RKI hatte schon vor einem Monat gefordert, die Maßnahmen auch an die tatsächliche Zahl der Covid-Fälle im Krankenhaus zu knüpfen. Seither haben die Regierenden zweimal den Lockdown verlängert. 

 Anmerkung 1: https://depositonce.tu-berlin.de

 Anmerkung 2: doi.org