© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Die Leichtigkeit des Erben
Abrechnung mit der Familiengeschichte: Christian Krachts Roman „Eurotrash“
Thorsten Hinz

Seit seinem Romanerstling „Faserland“ wird jedes neue Buch von Christian Kracht wie eine Osterbotschaft erwartet und empfangen. Damals, 1995, waren die Pop-, die Berlin- und Fräulein-Wunder-Literatur en vogue. Die literarischen Moden und die meisten ihrer Protagonisten haben sich verflüchtigt. Von den Übriggebliebenen ist Kracht der prominenteste.

Was ist an seinen Texten so besonders? Vom rein Handwerklichen einmal abgesehen – dem genauen Blick, der lapidar-präzisen Beschreibung –, fallen die exklusiven und exotischen Milieus sowie das Changieren zwischen realer und artifizieller Welt ins Auge. Doch das sind erst Besonderheiten und keine Alleinstellungsmerkmale. Jonas Lüscher („Frühling der Barbaren“, „Kraft“) oder Leif Randt („Schimmernder Dunst über CobyCounty“, „Planet Magnon“) stehen ihm in dieser Hinsicht kaum nach.

Tatsächlich klingt in „Faserland“ ein besonderer, ein singulärer Ton an, der in späteren Werken mehr oder weniger stark nachhallt. „Faserland“ ist ein Roadmovie, das den Ich-Erzähler, einen reichen, unglücklichen Jüngling, durch ein wohlstandsverwöhntes, nichtsdestotrotz unglückliches Deutschland führt, von Sylt bis zum Bodensee und weiter in die Schweiz, wo er auf dem Kilchberger Friedhof das Grab von Thomas Mann sucht, aber nicht findet. Diese Passage, genau in der Mitte plaziert, ist zentral für den Roman: „Das ist nun Heidelberg, und es ist wirklich schön dort im Frühling. Dann sind die Bäume schon grün, während überall in Deutschland noch alles häßlich und grau ist, und die Menschen sitzen in der Sonne an den Neckarauen. (…) Neckarauen, Neckarauen. Das macht einen ganz kirre im Kopf, das Wort. So könnte Deutschland sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte und wenn die Juden nicht vergast worden wären. Dann wäre ganz Deutschland wie das Wort Neckarauen.“ 

In einer Plastiktüte befindet sich die väterliche Asche

In schnoddriger Jugendsprache wird ausgedrückt, was Karl Heinz Bohrer die „poetische Trauer“ nannte. Heidelberg – das ist zunächst der Wohlklang der hellen Vokale und des dreisilbrigen Metrums, das in einer Kadenz endet. Komplementär dazu die „Neckarauen“, die in einem dunklen Diphtong ausklingen. Doch statt eine Ankunft zu erleben, die inneren Frieden stiftet, macht der Erzähler eine melancholische Abschiedserfahrung.

Die äußerliche Anmutung der Stadt, an die sich so viele romantische Assoziationen knüpfen, entspricht weder dem Land noch dem aktuellen Genius loci. Sie ist eine Kulisse, die eine versunkene Vergangenheit zitiert und von Touristen und „vielen furchtbaren Proleten“ frequentiert wird. Und weil die Gegenwart bereits Vergangenheit ist, enthält sie auch keinerlei Zukunftspotential. Der Verlust datiert auf den Krieg und den Holocaust, die nicht mehr eigens als politisch-historische oder moralische Einschnitte thematisiert, sondern als Markierungen im unerbittlichen Strom der Zeit historisiert werden. Mit souveräner Leichtigkeit erhebt Kracht sich über das Provinziell-Verbiesterte deutscher Geschichtsdiskurse und verleiht der Trauer eine singuläre Eindringlichkeit und Tiefe.

Auch in seinem neuen Roman „Eurotrash“ gibt es Beispiele einer originären Perspektive: Die Stiefmutter des Ich-Erzählers reist mit einer 35.000 Euro teuren Handtasche zur Seebestattung des hochvermögenden Vaters vom Genfer See nach Hamburg an. Was bei anderen Autoren der Auslöser für Sozialkritik wäre, wird bei Kracht zur Demonstration existentieller Nichtigkeit: In der Handtasche befindet sich eine Plastiktüte mit der väterlichen Asche. An einem trüben Tag wird sie in die schmutzige Elbe geworfen. 

Die Szene gibt Anlaß zu der Frage, wie weit Krachts Poetik und seine Rezeption kultursoziologisch bestimmt sind. Als Sohn des Generalbevollmächtigten des Springer-Verlages Christian Kracht sen. (1921–2011) ist er mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund aufgewachsen. Sein Zugang zur Welt der Schönen und Reichen ist der des Insiders, dem die formellen und informellen Regeln des Milieus vertraut sind. Internationalität und soziale Exklusivität sind für ihn natürliche Attribute. Das unterscheidet ihn von den Schriftsteller-Stipendiaten der Villa Massimo oder Villa Aurora, die hinterher andächtig, ironisch oder giftig berichten, was sie in Rom oder Hollywood gehört und gesehen haben.

Auf den Spuren des Kultursoziologen Nicolaus Sombart läßt sich die vertikale Gliederung der Gesellschaft in das Bild eines sich nach oben verengenden Mehr-etagenhauses Hauses fassen, das in einer scharfen Spitze endet. Etagenweise abgestuft, wohnen die unterschiedlichen sozialen Schichten darin. Von oben können die Bewohner wie durch gläserne Fußböden auf die unteren Etagen blicken, während der Blick von unten nach oben versperrt ist. „(W)er nicht dazugehört, weiß nichts“, so Sombart, dem bleibe nur das Fabulieren und Mutmaßen.

Auch könne man die „Leichtigkeit“ nicht erlernen. Man habe „das Gefühl dafür nur, wenn man schon als Kind mitbekommt, daß hinter den Fassaden und Maskeraden der gesellschaftlichen Verkehrsformen (…) als Übereinkunft höheren Ranges ein stilschweigendes Einverständnis der Akteure darüber herrscht, alles sei nur unter Vorbehalt (…) ernstzunehmen“, sich selbst eingeschlossen. Diese „Leichtigkeit“ – auch gegenüber den Konventionen, denen man lässig gehorcht oder die man lässig überschreitet, ohne ins radikale Gegenteil zu verfallen – sei eine „Abmachung unter ‘Gleichen’, unter denen, die ‘dazugehören’. Das aber ist das Privileg der ‘Erben’.“

Kracht ist ein Erbe und damit sozial und gesellschaftlich ein Sonderfall im bundesdeutschen Literaturbetrieb, der sich von Anfang an vornehmlich an „Kleinbürgern im Rheinland, Fabrikanten in Württemberg und unappetitlichen Affären der Provinz“ (Wolf Jobst Siedler) abarbeitete. Romane wie Ingo Schulzes – handwerklich solide gearbeitete – „Rechtschaffene Mörder“ (JF 22/20) über einen Dresdner Buchhändler, der auf rechtsextremistische Abwege gerät, sind die Osterweiterung des Gesinnungs-Provinzialismus West.

Für den Ich-Erzähler in „Faserland“ sind der Mercedes, der Porsche, die Markenklamotten so selbstverständlich, daß er sie nicht einmal als Statussymbole in Szene setzen muß. In Zürich nimmt er Quartier im Hotel Baur au Lac (die Zimmerpreise beginnen aktuell bei knapp 700 Euro) und ist Snob genug, um sich zum Frühstück einfache Hausmannskost servieren zu lassen. Er belustigt sich über die mit kreativen Designerbrillen bewaffneten Werbefuzzis, die für den Speisewagen des ICE die Bezeichnung „Bordtreff“ erfunden haben, weil das nach Hightech und doch gemütlich klingt, und erkennt in Gewerkschaftsfunktionären mit schlecht sitzenden Anzügen den Blockwart-Typ.

In Krachts zweitem Roman, „1979“, ist der reiche Jüngling ein Globetrotter, der im Iran von der Islamischen Revolution überrascht wird. Seine Flucht endet in einem chinesischen Umerziehungslager, wo er sich als „guter Gefangener“ bewährt, Selbstkritik übt und trotz Untergewichts freiwillig Blut spendet. Das Buch nimmt gewissermaßen Michels Houellebecqs „Unterwerfung“ vorweg und ist Krachts reifste Leistung.

Kniefälle der Rezensenten vor dem Weltbürger

Mit ihm scheint er sich jedoch auch thematisch erschöpft zu haben. In den Romanen „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ und „Imperium“ verselbständigt sich das Artistische und Artifizielle. Der Roman „Die Toten“ schließlich ist edles Kunstgewerbe. Der Begeisterung der Rezensenten tut das keinen Abbruch. In „Eurotrash“ räsoniert der Erzähler darüber, daß sein Vater sich durch die Erniedrigung sozial Schwächerer zu erhöhen trachtete. Umgekehrt wäre zu prüfen, inwieweit es sich bei den vielen Lobgesängen auf Krachts Bücher um Kniefälle handelt, die aus ihrer Kleinbürgerlichkeit strebende Kritiker vor dem dichtenden Weltbürger vollziehen.

„Eurotrash“ knüpft thematisch, formal und motivisch direkt an „Faserland“ an. Der Ich-Erzähler heißt wahrhaftig Christian Kracht und hat wahrhaftig „Faserland“ verfaßt. Sein Roadmovie mit der halbdementen Mutter, die in einer Plastiktüte 600.000 Schweizer Franken bei sich trägt, führt von Zürich durch die Schweiz und endet in einem Pflegeheim in Winterthur. Das Mutter-Sohn-Verhältnis ist wirklich anrührend inszeniert, und in scheinbar beiläufigen Szenen blitzt Krachts Könnerschaft immer wieder mal auf.

Aber sonst? Als Motto ist ein Satz von Jorge Luis Borges (dessen Genfer Grab gesucht und vom Erzähler auch gefunden wird) vorangestellt: „Wenn Du Deutschland liebst, dann besuche es lieber nicht.“ Doch statt poetischer Trauer gibt es bloß eine Abrechnung mit der Familiengeschichte, zu der die obligate Portion NS-Schuld gehört. Geboten wird das wahlweise im Sound von Thomas Bernhard und von Bölls „Ansichten eines Clowns“. Der Vater – Sohn kleiner Leute – war bemüht gewesen, sich die Dress– und Verhaltenscodes der Upper class, in die er sich hochgearbeitet hatte, perfekt anzueignen. Natürlich verkrampfte er dabei, weshalb der Erzähler-Sohn ihn als Parvenü abqualifiziert. Ja, mein Gott, so ein sozialer Aufstieg braucht halt drei Generationen. Christian Kracht jun. (der echte? der fiktionale?) hält für buchenswert, daß er dem verstorbenen FAZ-Herausgeber Frank Schirrrmacher im angetrunkenen Zustand Stefan-George-mäßig über das Haar strich (real? fiktional?), was dieser sich jedoch verbat. 

Der Roman ist unterhaltsam – und ein hermetischer Gemeindebrief.

Christian Kracht: Eurotrash. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, gebunden, 224 Seiten, 22 Euro