© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Auf über 4.000 Höhenmetern wird die Luft ziemlich dünn. Die Temperaturen auf der tibetischen Hochebene liegen bei minus 20 Grad und kälter. In dieser unwirtlichen Gegend suchen der Reiseschriftsteller Sylvain Tesson, der Tierfotograf Vincent Münter und zwei weitere Begleiter nach dem Schneeleoparden, einer der am stärksten bedrohten Großkatzen der Welt. Über ihre Expedition hat Tesson ein wunderbares, staunenswertes Buch geschrieben, das dem Franzosen 2019 den renommierten Prix Renaudot  eingetragen hat und das jetzt in diesem Frühjahr höchst lesenswert auf deutsch erschienen ist („Der Schneeleopard“, Rowohlt, Hamburg 2021, gebunden, 190 Seiten, 20 Euro).


Laut Steckbrief der Natur- und Umweltschutzorganisation WWF (World Wide Fund For Nature) streifen schätzungsweise nur noch etwa 4.200 bis 6.600 Schneeleoparden durch die Wildnis. Die Weltnaturschutzunion IUCN führt das Tier auf der Roten Liste gefährdeter Arten. Nach ihren Angaben leben sogar nur noch etwa 2.700 bis 3.400 erwachsene Schneeleoparden in freier Wildbahn.


Als Tesson den ersten Schneeleoparden erspäht, ist er hin und weg. „Er trug das Wappen der tibetischen Landschaft. Sein Fell, Intarsien aus Gold und Bronze, gehörten dem Tag, der Nacht, dem Himmel und der Erde. (…)  Er ruhte, in vollkommener Hingabe, unantastbar. In meinem Fernglas sah ich, wie er sich streckte. Und wieder hinlegte. Er gebot über sein Leben. Er war die Quintessenz des Ortes. Allein seine Anwesenheit brachte seine ‘Macht’ zum Ausdruck. Da die Welt seinen Thron bildete, füllte er dort, wo er war, den Raum. (…) Ein wahrer Herrscher begnügt sich damit zu sein. Er erspart sich das Handeln und verzichtet darauf, sich sehen zu lassen. Seine Existenz allein begründet seine Autorität.“


Es sind poetische Beschreibungen wie diese, die das ganze kontemplative Buch durchziehen. Während die Gefährten auf der Lauer liegen und Yaks, Blauschafe, Tibetgazellen und Tibetantilopen, Füchse, Luchse, Esel, herumstrolchende Wölfe, Steinkauze und Aasgeier beobachten, reflektiert Tesson immer wieder metaphysische Fragen über die Evolution und den Kreislauf des Lebens, insonderheit über das Verhältnis von Individuum und Natur, die Beziehung von Mensch und Tier. Er zitiert Ernst Jünger, der, ein kleines Fossil aus der Erdfrühzeit betrachtend, von den Ursprüngen träumte: „Einmal werden wir wissen, daß wir voneinander gewußt haben.“