© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

An den Leidensweg erinnern
Passion Christi: Kreuzwege unter freiem Himmel laden zum Meditieren ein
Paul Leonhard

Pandemiebedingt müssen sich Gläubige zu Ostern vielerorts mit einer Online-Variante des Kreuzweges begnügen. So wird auch durch die Altstadt des niederschlesischen Görlitz am Karfreitag, wie schon im Vorjahr, keine Prozession von der Peterskirche durch die Nikolaivorstadt bis zum Heiligen Grab ziehen, einer Nachbildung der Grabeskirche in Jerusalem. Auch wenn es natürlich jedem freisteht, privat und einzeln diesen Weg zu beschreiten, bittet die evangelische Kirche darum, auf diese Tradition zu verzichten und sich stattdessen lieber ein eigens ins Netz gestelltes Video anzusehen. Die Kirchenoberen folgen damit einer Bitte des aus Görlitz stammenden sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU).

In der geteilten Grenzstadt und im nur wenige Kilometer entfernten, ebenfalls direkt an der Neiße befindlichen Städtchen Ostritz befinden sich, sieht man von Berlin-Charlottenburg ab, die beiden einzigen erhaltenen Kreuzwege in den neuen Bundesländern. Insgesamt gibt es in Deutschland wohl mehr als 200 derartiger an den Leidensweg Christi erinnernder Wallfahrtswege. Die meisten konzentrieren sich in Bayern, speziell an der Grenze zu Österreich.

Ihren Anfang nahm diese Tradition während der Kreuzzüge im 12./13. Jahrhundert. In Jersualem liefen Pilger betend und singend vom Haus des Pilatus, wo Jesus verurteilt worden war, zur Stätte der Kreuzigung bei Golgota. Später entstanden entlang der Via Dolorosa, der schmerzensreichen Straße, Stationen, an denen während der Prozession innegehalten wurde. Ursprünglich waren diese unter anderem „Verurteilung“, „Geißelung“, „Simon von Cyrene“, „Kreuzigung“, aber sie wurden nach und nach auf weitere Bibelstellen und schließlich auch auf Legenden (Veronika reicht Jesus das Schweißtuch) ausgeweitet.

Diese Andachtsform wurde von Jerusalem-Pilgern mit nach Europa gebracht. Um 1500 entstanden in Mitteleuropa Kalvarienberge mit Skulpturen der drei Kreuze, die der Hinrichtungsstätte von Jesu Christi nachempfunden waren. Häufig entwickelten sich diese zur Endstation eines Kreuzweges. Diese erlebten ihre Blütezeit im 18. Jahrhundert, insbesondere nachdem Benedikt XIII.1726 alle Gläubigen, die an einem Kreuzweg beteten, von ihren Sünden freisprach.

„Weg der Hoffnung“ entlang der früheren Grenze

Als ältester bekannter Kreuzweg im deutschsprachigen Raum gilt der Ende des 15. Jahrhunderts in Lübeck entstandene, von dem sich die erste und letzte der einst sieben Stationen erhalten haben. Er wurde vom Kaufmann und Ratsherrn Hinrich Constin angelegt und von seinem Erben fertiggestellt. Es ist der einzige in Norddeutschland, und er ist elf Jahre älter als der 1504 eingeweihte Görlitzer. Aus dem Jahr 1503 stammt der Bamberger Kreuzweg, der der älteste vollständig erhaltene Deutschlands ist.

Seit 1600 erweiterte sich die Zahl der Stationen auf 14, und so wurde sie auch durch Papst Clemens XII. kanonisiert, der im Kolosseum in Rom einen Kreuzweg mit 14 Stationen anlegen ließ. Parallel dazu verlagert sich die Andachtsform in die römisch-katholischen Pfarrkirchen in Form von Bildern an den Wänden. Seit dem 18. Jahrhundert kommt eine 15. Station dazu, die entweder die Auferstehungskirche von Jerusalem darstellt oder, so in einigen süddeutschen Barockkirchen, die Kreuzauffindung durch Kaiserin Helena.

Es gibt aber auch Kreuzwege mit 22 und mehr Stationen. So umfaßt der Kreuzweg, der zur Wallfahrtskirche Maria Loreto nahe des böhmischen Eger führt, 27. Und der ab 1701 von Fürst Paul Esterhazy errichtete Kreuzweg vom Oberberg der Pfarrei Eisenstadt bestand einst aus zehn Kapellen, mehr als 200 überlebensgroßen barocken Figuren, 18 Altären samt Nischen, Treppen, Grotten und Gängen sowie einer „Heiligen Stiege“ mit ursprünglich 33 Stationen.

Die Faszination Kreuzweg endete nicht mit der Barockzeit. Selbst in der heutigen Zeit entstehen neue. So wurde Ende der 1980er Jahre ein Kreuzweg in Frickenhausen im Landkreis Würzburg angelegt, der vom Rathaus zur Valentinuskapelle führt. Und auf einer Halde der stillgelegten Bottroper Zeche Prosper-Haniel erinnern seit dem Besuch von Papst Johannes Paul II. 1987 im Ruhrgebiet Kupfertafeln entlang eines mehr als einen Kilometer langen Kreuzweges an die Passion Christi mit Elementen der Bergbauwelt, während der „Weg der Hoffnung“ über 1,4 Kilometern Länge entlang des Todesstreifens der früheren innerdeutschen Grenze zwischen Hessen und Thüringen führt.

Mit dem Satz „Genießen Sie die Natur und erinnern Sie sich an den Leidensweg Jesu“, ermuntern die Gemeinden St. Lambertus in Affeln, St. Lucia in  Altenaffeln und St. Agatha in Blintrop im Sauerland zu einem etwa halbstündigen Gang entlang des Kreuzweges in Affeln. Hinter den verschlossenen Holztafeln verbergen sich Kurzbeschreibungen der einzelnen Stationen, die die Besucher zum meditativen Betrachten einladen. Und überall, wo es kleine Steigungen zu bewältigen gilt, laden Bänke zum Verweilen ein.

Das Bedürfnis zur Meditation bleibt aktuell. Viele Christen werden daher am Karfreitag – egal ob persönlich auf einem der vielen Kreuzwege oder das Online-Angebot nutzend – mit Jesus den Kreuzweg gehen. Trost und Hoffnung erfüllen zwei Tage später die Herzen, wenn am Ostersonntag die Glocken läuten.