© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Zerstörung im Namen der Menschenliebe
Nihilismus: Was der vor zweihundert Jahren geborene russische Großschriftsteller Dostojewski mit der heutigen geistigen Lage zu tun hat
Thorsten Hinz

Sich mit den Ereignissen in Politik und Gesellschaft im einzelnen noch auseinanderzusetzen, kommt längst einer Energieverschwendung gleich. Der politisch-mediale Raum ist ein Tollhaus, und die Schlammflut des Irrsinns, die sich aus ihm ergießt, ist unaufhaltsam.

Was soll man sinnvollerweise einwenden, wenn eine Spitzenpolitikerin, die über „Kobold“ (statt Kobalt) und die angebliche Speicherkapazität von Stromleitungen schwadroniert, zur kanzlerkompetenten Energieexpertin hochgeschrieben wird? Wenn die politische Klasse keine Steuerreform zustande bringt, aber vorgibt, mit Verordnungen und Gesetzen das tausendfach komplexere Klima-System drehen zu können? Wenn sogenannte – natürlich teilweise steuerfinanzierte – Neue Deutsche Medienmacher für ihren Lobbyismus feste Quoten in den Medien einfordern? Nicht zu reden vom Kinderkreuzzug im Zeichen der spinnerten Greta, von der Gender-, Identitäts- und Diversitätpolitik, den Antirassismus- und Antifaschismus-Kampagnen.

Ein Ende der Entwicklung ist nicht abzusehen. In den USA steht das Einmaleins im Verdacht, ein Instrument der Unterdrückung, der „white supremacy“, zu sein. Es wird nicht mehr lange dauern, bis auch in Deutschland nach diversitätsgerechter Ethnomathematik gerufen wird. Kritiker dieser Entwicklung finden sich zwischen den Mühlsteinen eines politischen Diskurses wieder, der nur zwei Möglichkeiten kennt: Alles Mutti – oder Nazi!

Nihilistische Revolution auch in der Moderne

Aus der Distanz betrachtet, handelt es sich um Einzelmotive einer „totalen Revolutionierung aller Ordnungselemente“, die auf die „umfassende Zerstörung des bisherigen Ordnungskosmos“ hinausläuft und „vom realpolitischen, rationalen Standpunkt aus unverständlich“ ist. Diese „Revolution des Nihilismus“ trägt ihren Sinn und Zweck in sich selbst, in ihrem „revolutionären, irrationalen Charakter“. Ohne eine kohärente „Doktrin“ zu besitzen, wird sie „in ihrer Tendenz zur Abtragung aller Ordnungselemente durch nichts bestimmt und begrenzt als den Willen, sich selbst in Bewegung und ihre ‘Elite’ an der Macht zu erhalten“. Sie bringt weder materielle noch geistig-kulturelle Wertschöpfungen hervor. Im Gegenteil, sie schmarotzt von der Substanz und zerstört sie schließlich.

Ihre Protagonisten sind erfüllt von religiöser Ekstase, sozialer Rührung, Sentimentalität, Selbstmitleid und Sendungsbewußtsein sowie von einem besonderen Haß, der bis zu Brutalität und Vernichtungswut geht. Ihr Kampf richtet sich gegen den gesunden Menschenverstand, „gegen die Intelligenz und gegen die Freiheit der Wissenschaft (…).“ Er „entspringt der klaren Überlegung, daß der Geist und seine Pflege einen eigenständigen Ordnungskreis bedeutet, in dem die unzerreißbare Einheit des geschichtlichen Kontinuums des Abendlandes wirksam bleibt“. Um erfolgreich zu sein, müssen die Nihilisten sie diskreditieren und aufsprengen. Weil die herausragenden Repräsentanten des Abendlandes weiß und männlich sind, richtet sich ihre Energie gegen den alten weißen Mann.

Die Zitate entstammen dem 1938 erschienenen Buch „Die Revolution des Nihilismus“. Sein Verfasser, der ehemalige Danziger Senatspräsident Hermann Rauschning, beschrieb darin den Nationalsozialismus als eine Variante zivilisatorischer Selbstaufgabe. Ein Abgleich der Textstellen mit der Gegenwart zeigt, daß die nihilistische Revolution sich nicht auf den Nationalsozialismus und Kommunismus – die zwei Spielarten des ideologischen Totalitarismus – beschränkt, sondern eine Möglichkeit und Gefahr der Moderne überhaupt darstellt.

Dostojewskis Dämonen schmieden Pläne

Als gesellschaftspolitische Strömung macht der Nihilismus sich erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts in Rußland bemerkbar. Der verlorene Krimkrieg 1853/56 hatte die Rückständigkeit des Zarenreiches drastisch offenbart. Die junge russische Opposition radikalisierte sich. Sie verachtete die liberale Vorgängergeneration, die keine Veränderungen hatte durchsetzen können. In dem 1862 erschienenen Roman „Väter und Söhne“ hat Iwan Turgenjew die nihilistische Ideenwelt thematisiert. „Augenblicklich ist Verneinung das Nützlichste von allem – und so verneinen wir eben“, erklärt einer der Wortführer. Man werde sich keiner Autorität beugen und kein hehres Prinzip mehr akzeptieren. 

Elf Jahre später arbeitete Fjodor Dostojewski (1821–1881) im Roman „Die Dämonen“ die Problematik ungleich drastischer heraus. In einer Provinzhauptstadt sammelt der Student Pjotr Werchowenski einen Kreis junger Leute um sich und macht sie glauben, Teil einer das ganze Land umspannenden Organisation zu sein. Die Figur ist dem Studenten Sergei Netschajew (1847–1882) nachgebildet, ein Bakunin-Anhänger, der 1869 den „Katechismus eines Revolutionärs“ verfaßt hatte. Darin sind in 26 Paragraphen die Ziele und Verpflichtungen der Revolutionäre festgelegt. „Unser Kampf ist die vollständige und radikale Zerstörung“, heißt es unmißverständlich, einschließlich systematischer Massenhinrichtungen. Sittlich sei alles, was der Revolution diene, unsittlich und verbrecherisch sei hingegen, was ihren Triumph verhindere.

Auch Dostojewskis junge Dämonen schmieden Pläne für einen Great Reset: „Ein Zehntel erhält Freiheit der Person und unbegrenzte Macht über die restlichen neun Zehntel. Die wiederum sollen ihre Persönlichkeit verlieren, zu einer Art Herde werden und dann, bei unbegrenzter Unterwerfung, durch eine Reihe von Neugeburten die Unschuld der Urzeit erlangen, wobei sie allerdings arbeiten müssen.“ Nötig dazu sei die „Umerziehung ganzer Generationen“. Höhere Bildung sei ein „aristokratisches Verlangen“ und ebenso abzuschaffen wie Eigentum, Familie, Privatheit. Stattdessen sollen vorerst Trunkenheit, Klatsch und Denunziation die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen. „Schließt schleunigst die Kirchen, beseitigt Gott, brecht die Ehen, fort mit dem Erbrecht, greift zum Messer.“ Gerechtfertigt wird die Vorwegnahme des stalinistischen Terrors mit einer „fanatischen Menschenliebe“.

Werchowenski gelingt es durch Beredsamkeit und Raffinesse, das liberale Establishment zu manipulieren. Der Gouverneur und seine Frau begreifen nicht im entferntesten, welchen Dämon sie sich ins Haus geholt haben, der ihre Stellung untergräbt. Es geschehen Verbrechen, und schließlich steht die halbe Stadt in Flammen. Zumindest im lokalen Rahmen haben die Nihilisten die Verhältnisse zum Tanzen gebracht.

Zugleich herrscht in der Gruppe eine von aller Realität abgekoppelte, unheimliche Binnendynamik, die zum Mord an einem angeblichen Verräter aus den eigenen Reihen führt. Die reale Vorlage dafür hatte ebenfalls Sergej Netschajew geliefert. Marx und Engels hatten dessen Tat scharf kritisiert, weil sie sich im Ergebnis „nicht gegen die bestehende Ordnung richtet“, sondern der bürgerlichen Presse die Gelegenheit gibt, die Arbeiterbewegung zu diffamieren. „Dabei sind wir Kommunisten / Wirklich keine Anarchisten / Terror individueller / ist nach Marx ein grober Feller“, faßte Wolf Biermann ihre Einwände zusammen.

Lenin wiederum kritisierte die „Dämonen“, weil Dostojewski die Revolution mit dem Nihilismus und Anarchismus identifizierte. Um den Roman korrekt zu bewerten, müsse man seine antianarchistische von der antirevolutionären Tendenz trennen. Der anarchistische Terror wird nicht aus grundsätzlichen, sondern aus Gründen der Zweckmäßigkeit abgelehnt. Die spontane individuelle Gewalt verzögert nämlich die Entfaltung der planvollen revolutionären Gewalt; der Fanatismus der Kleingruppe weckt in der Öffentlichkeit moralische Empörung und erschwert damit die Verbreitung des ideologischen Massenwahns. Das Ziel, eine Welt umzustürzen, aber ist dasselbe.

Gewaltbereitschaft gegen Andersdenkende

Heute findet keine soziale, sondern eine Kulturrevolution statt, die über die Universitäten, Medien, Stiftungen, NGOs, Lobbygruppen die westlichen Gesellschaften ergreift. Über die symbolische wird politische Macht generiert, die für materielle Vorteile sorgt. Ein neuer, in sich dissonanter, aber autoritärer Ordnungskosmos zeichnet sich ab, der sich über politische, ökonomische und sonstige Vernunft sowie anthropologische Gegebenheiten und Naturgesetze hinwegsetzt.

Ein deutsches Spezifikum dieser Revolution, deren Beginn allgemein auf 1968 datiert wird, war – und ist – die zwanghafte Fixierung auf den NS-Nihilismus. Die Gefahr der mimetischen Anverwandlung an dessen Unbedingtheit war von Anfang an offensichtlich. Zwar wird die Läuterung dogmatischer Straßenkämpfer von einst zu verantwortlichen Staatsbürgern und Demokraten als eine Erfolgsgeschichte dieser Republik erzählt, doch sie hält der Realität höchstens teilweise stand.

Bertolt Brecht hielt die Gründung einer Bank für effektiver als einen Bankraub. Ein Justiz- oder Kultusministerium zu leiten, Positionen im akademischen, im Kultur- und Medienbetrieb einzunehmen und nachwachsende Generationen geistig zu formen ist allemal nachhaltiger als anarchischer RAF-Terrorismus. Die auf Zerstörung ausgerichtete Zielsetzung und die Bejahung von Gewalt als effektives Herrschaftsmittel braucht trotzdem nicht aufgegeben zu werden. Daß dieses Bestreben nun mit den Plänen zu einem globalen Great Reset konform geht, ist ein nachträglicher Treppenwitz, dessen Pointe langsam aufgeht.

Die mediale Bagatellisierung der Brandschatzungen und Gewalt der „Black Lives Matter“-Bewegung oder die Duldung und Förderung gewaltbereiter Gruppen als informelle Ordnungsmacht gegen Andersdenkende von ganz oben sprechen eine eindeutige Sprache.

Wenn dann noch die Erstellung und Veröffentlichung von Proskriptionslisten politisch Unliebsamer amtlicherseits zur „staatsbürgerlichen Aufklärung“ aufgewertet wird, könnten die Werchowenskis unserer Tage das als Anstoß zu einer gruppendynamischen Radikalisierung verstehen. Sittenbildende Gegenkräfte, die ihnen moralische Einwände vermitteln könnten, sind jedenfalls nicht mehr erkennbar. 

Vergleichsweise harmlos klingt, was Hölderlin vor über 200 Jahren über die ihn umgebende Gesellschaft notierte: „Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen.“ Rauschning erkannte 1938 in den Physiognomien der nihilistischen Gesellschaft keine Spur mehr „noch irgend eines inneren Kampfes, einer echten Ruhe, nur flackernde und wieder blind werdende Augen, brutale Mienen, linkische Gebärden, schwammige oder verzerrte Züge, Grimassen, aber kein Ausdruck.“ Wie sieht es heute aus?

Fjodor Dostojewski: Die Dämonen. Anaconda, München, gebunden, 928 Seiten, 9,95 Euro