© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Digital hui, Print pfui
75 Jahre nach ihrer Gründung versucht die „Welt“, ihr altes konservatives Profil wieder zu schärfen
Ronald Berthold

Zum 75. Geburtstag steht die gedruckte Ausgabe der Traditionszeitung Welt mehr denn je auf der Kippe. Allein im vergangenen Jahr sank die Auflage um 34,2 Prozent. Seit 2010 verlor das Blatt fast drei Viertel seiner Leser. Zuletzt wurden im Abonnement und am Kiosk nur noch 41.661 Exemplare verkauft. Gleichzeitig versucht die Chefredaktion, das liberalkonservative Profil, für das die Zeitung Jahrzehnte bekannt war, zu schärfen. Und dies erweist sich trotz der Print-Krise als Erfolgsmodell.

Denn dem bevorstehenden Abschied von der Papier-Zeitung steht ein enormer Aufschwung im Onlinegeschäft gegenüber. Die Welt verkauft inzwischen 146.046 Digital-Abos. Ihre direkten Konkurrenten, die Frankfurter Allgemeine (63.731) und die Süddeutsche Zeitung (82.740), hat das bei Axel Springer erscheinende Medium damit deutlich distanziert. In Deutschland ist nur die aus demselben Haus kommende Bild auf diesem Markt erfolgreicher: 519.767 Leser haben das Boulevardblatt online abonniert.

Ihre Auflagenverluste konnte die Welt auf diese Weise kompensieren. Rechnet man die Segmente Print und Online zusammen, verkauft die Zeitung heute sogar erheblich mehr Abos als vor zehn Jahren. Sind es aktuell addierte 184.047, waren es 2010 lediglich 134.824 – ein Plus von 36,5 Prozent. Selbst die Abonnentenzahl aus dem Boomjahr 2000 hat die Redaktion mit Hilfe des Digital-Journalismus inzwischen übertroffen. Damals waren es 165.824. 

Als Organ der Siegermächte gestartet

Im am 6. Oktober 2020 eröffneten Neubau an der Axel-Springer-Straße in Berlin-Mitte steht nach einem Dreivierteljahrhundert Zeitungsgeschichte ein radikaler Umbruch bevor. Erstmals sind dort die Bereiche Print, Digital und Fernsehen unter einem Dach vereint. Mit der vor mehr als sieben Jahren erfolgten Übernahme des Nachrichtensenders N24, der seit 2018 denselben Namen trägt wie die Zeitung, ist dem Unternehmen ein crossmedialer Durchbruch gelungen. Zeitungsredakteure treten dort als politische Analysten auf, und umgekehrt bindet die schreibende Zunft die TV-Beiträge in die (Online-)Artikel ein. Alle drei Kanäle des Unternehmens profitieren.

Die gedruckte Ausgabe gilt dagegen intern nur noch als Abfallprodukt der Netzseite. Ein Teil der Digital-Texte schustert die Redaktion zu einer Zeitung zusammen und läßt sie an die überalterte Leserschaft ausliefern. Durch die Kosten für Druck und Zustellung ist dies ein wirtschaftlich kaum noch zu schulterndes Unterfangen.

Das war zum Start der Zeitung ganz anders. Als die Welt am 2. April 1946 erstmals an den Kiosk kam, war sie noch ein Organ der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Sie erschien in Hamburg, das zur britischen Besatzungszone gehörte. Chefredakteur war der Sozialdemokrat Rudolf Küstermeier, den die Nazis ins KZ Bergen-Belsen gesperrt hatten. Die Zeitung erreichte eine Auflage von einer Million Stück.

1953 übernahm der damals 41jährige Axel Springer die Welt für zwei Millionen Mark und formte aus ihr eine rechtskonservative Zeitung. Das Profil prägte nun Hans Zehrer, den die Briten 1946 nach kurzer Zeit und Protesten der SPD als Chefredakteur noch vor Erscheinen der ersten Ausgabe abgesetzt hatten. Springer vertraute ihm die Leitung des Blattes an.

Die beiden reisten 1958 gar nach Moskau, um die Wiedervereinigung Deutschlands auszuloten. Nach dem ernüchternden Besuch rückten sie und damit die Welt von der Idee der Neutralität ab. Nun stießen weitere Antikommunisten wie Paul Karl Schmidt, der als „Paul Carell“ Autor bekannter Kriegsbücher war, und der Publizist Matthias Walden zur Zeitung.

Die Welt blieb dennoch ein Zuschußgeschäft, das Springer aus den Einnahmen seiner anderen Zeitungen querfinanzierte. In seinem Testament soll der Verleger, der 1985 starb, verfügt haben, daß die Zeitung nicht eingestellt werden darf. Dabei spielte er zu Lebzeiten selbst mit dem Gedanken, das Blatt zu verkaufen. In den 1970er Jahren verhandelte er mit der Frankfurter Allgemeinen über einen Verkauf. Die Welt wäre dann in der FAZ aufgegangen. Springer soll sich, so sein Biograph Hans-Peter Schwarz, aber kurzfristig entschieden haben, den fertigen Vertrag nicht zu unterschreiben. 

Um die Welt aus den Defiziten herauszuholen, unternahm der Verlag diverse Anläufe. 2002 legte er die Redaktion mit der der Berliner Morgenpost zusammen. Ähnliches geschah später mit dem Hamburger Abendblatt. Die beiden alteingesessenen Lokalzeitungen hat Springer inzwischen an die Funke-Mediengruppe verkauft. Um Kosten zu sparen, fusionierten 2006 die bis dahin getrennten Redaktionen von Welt und der Welt am Sonntag, die damals rund 400.000 Exemplare verkaufte. Ein Jahr später schrieb die Welt erstmals schwarze Zahlen.

Vor mehr als acht Jahren führte der Verlag als eines der ersten Medien in Deutschland ein Bezahlmodell für die Online-Inhalte ein. Inzwischen sind nur noch Agenturmeldungen und kurze aktuelle Berichte ohne Abonnement zu lesen. Die Kommentare der immer noch mehrheitlich linksliberal eingestellten Redakteure schwankten zuletzt zwischen grünem Mainstream und rechtsbürgerlichen Standpunkten. 

Der Leser wußte nicht so recht, wo die Zeitung hinwill. Chefredakteur Ulf Poschardt setzt nun vermehrt auf konservative Leser, die sich von den übrigen Medien verprellt fühlen. Diese Marktlücke soll wohl, wenn die Tendenz der vergangenen Wochen anhält, geschlossen werden.

Einige kritische Autoren und Kommentare

Der bei dieser Klientel sehr beliebte Kolumnist „Don Alphonso“ veröffentlicht auf Welt.de seine messerscharfen Abrechnungen mit dem Establishment. Auch die gegen den Strich gebürsteten ironischen Einlassungen von Henryk M. Broder sind Klick-Bringer. Poschardt selbst wird immer deutlicher und greift CDU und FDP von rechts an. Viele Äußerungen decken sich mit denen der AfD, die er freilich in Grund und Boden schreibt. Zu angreifbar will er sich nicht machen. Vergangene Woche veröffentlichte er einen Wutausbruch über die aktuellen Corona-Beschlüsse von Kanzlerin und Länderchefs. Der 54jährige beklagte, die Eigenverantwortung werde „denunziert und der Freiheitsliebende verunglimpft“.

Die Ministerpräsidenten bezeichnete der Chefredakteur als „eine Kohorte überforderter Krisen-Nichtbewältiger“. Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) schimpfte er einen „Versager“ und Bodo Ramelow (Linkspartei) die „Ministerpräsidenten-Pfeife aus Thüringen“. Seinen Lesern sprach er damit aus der Seele. Das zeigt die bei der Welt am Ende eines Kommentars übliche Abstimmung. Bei rekordverdächtigen 9.000 Stimmen kam Poschardt auf 95 Prozent Zustimmung.

Ihn dürfte das ermutigen, den regierungskritischen Kurs fortzusetzen. So könnte die Welt im 76. Jahr ihres Bestehens auch ohne gedruckte Ausgabe zu ihren Wurzeln zurückfinden.