© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Kirchen in der Corona-Krise: Ist Gesundheit das höchste Gut?
Heiligung statt nur Heilung
Wolfgang Ockenfels

Alle Menschen sind sterblich. Sterben muß jeder. Doch nur wann? In dieser Frage haben Mediziner und auch die Politiker einen großen Vorsprung vor den Theologen und den kirchlichen Seelsorgern.

„Gesundheit ist das höchste Gut“ – anstelle Gottes, der früher einmal als summum bonum verherrlicht wurde. Heute muß Gott, um anerkannt zu werden, der Gesundheit dienen und die Religion therapeutischen Zwecken. Heilung statt Heiligung steht auf dem theologischen Programm. Wer sich mit „Wie geht’s?“ nach dem Wohlbefinden des Mitmenschen erkundigt, erwartet eine „positive“ Antwort, die beileibe nicht auf die Sinnfrage zielt. Denn Fragen nach dem Woher und Wohin des Lebens oder nach dem Einklang mit Gott und Gewissen gelten als rein privat und indiskret, also als höchst verdächtig.

Die überzogene Sorge um die eigene Gesundheit macht einen ganz krank und ökopathologisch. Vermehrt gibt es Leute, die ihrem „natürlichen“ Tod durch Selbstmord zuvorkommen wollen. Im Kult physisch-psychischer Gesundheit wird der Mangel an geistig-moralischer Gesundheit als besondere Ich-Stärke empfunden, die freilich der lebensbegleitenden psychotherapeutischen Stütze bedarf. Das soll man sich auch etwas kosten lassen, denn das höchste Gut ist nicht billig zu haben.

Die Zehn Gebote enthalten die Verheißung: auf daß es dir wohlergehe und du lange lebst auf Erden. Aber wozu ein langes Leben, wenn es keinen transzendenten Sinn mehr hat? Es willkürlich zu beenden, wenn es nicht mehr als „lebenswert“ gilt, ist die Kehrseite jener fixen Idee, die das ewige Leben schon im Diesseits finden will. „Das Leben ist kurz und unwiederbringlich“, meinte einst Hans M. Enzensberger. Einer anderen Geistesgröße, nämlich dem katholischen Philosophen Ludwig Wittgenstein, kann man das klassische Wort – etwas abgewandelt – unterstellen: „Worüber man nicht schweigen kann, darüber muß man reden.“

Notzustände wie diese haben zu staatlichen Maßnahmen geführt, die schon jetzt weder ökonomisch noch politisch in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen sind mit bisherigen freiheitlichen Ordnungsvorstellungen von Rechtsstaat und Demokratie.

Was die Kirchen, speziell die katholische, zu Corona zu reden und zu sagen haben, ist eher dürftig, manchmal auch peinlich und zudem wenig trostreich. Sie werden ohnehin meist als „alte Damen und Herren“ wahrgenommen, also als bevorzugte Opfer der Corona-Seuche markiert, zu denen man auf soziale Distanz geht, um sich nicht anstecken zu lassen oder ansteckend zu wirken. Sie gehören zu den üblichen Kontaktgesperrten, deren mangelnde „Systemrelevanz“ nicht selten zu einer Überkompensation eben dieses Mangels führt, indem sie sich besonders eifrig den stets neuen und oft widersprüchlichen Regulierungen des „Systems“ gehorsamst unterwerfen. Und zwar ohne diese „kritisch zu hinterfragen“, was ja die einstmals kritisch-links standardisierte Theologie geradezu als häretisch verdächtigte.

Jetzt sind diese vormals linken Protagonisten der Sozialtheologie plötzlich sehr systemfromm geworden, befinden sich aber in einem Dilemma: Sollen sie nun den politisch-autoritären, rechtlich zwingenden Befehlen folgen – oder orientieren sie sich an „alternativen“ Vorschlägen, deren naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruch sie nicht zu erfassen vermögen. Was haben die Prälaten und ihre Ratgeber eine Ahnung oder gar Kompetenz, über Naturwissenschaften zu urteilen? Gilt hier etwa das Mehrheitsprinzip als Wahrheitskriterium? Mir scheint, sie schöpfen nicht aus eigener Erfahrung und theologischer Kompetenz, sondern schließen sich einfach einer aktuell wissenschaftlich und politisch vorherrschenden Meinung an.

Deshalb gehorcht man besser der staatlichen Obrigkeit, wenigstens einstweilen. Abgerechnet wird später.

Man habe bitte Verständnis für die momentan desolate Lage der Kirche(n). Sie haben erhebliche finanzielle Einbußen zu erleiden, leiden an Mitglieder- und Glaubensschwund, leisten sich innerkirchliche Reformdebatten über den „synodalen Weg“, der sie „Los von Rom“ bewegt – und wissen sich kaum noch jenseits der medial neu skandalisierten Mißbrauchsdebatten zu artikulieren. Das alles wird die Kirche, die so etwas seit Jahrtausenden erlebt, auch nach Corona überleben, wenn auch geschwächt.

Diese Seuche wird vor allem in der staatlichen und ökonomischen Realität nachhaltige Spuren hinterlassen. Manche sehen jetzt schon eine Zeitenwende kommen, in der die modernen Fortschritts- und Wohlstandserwartungen erhebliche Risse erhalten. Zumal Notzustände wie diese zu staatlichen Maßnahmen führen, die schon jetzt weder ökonomisch noch politisch in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen sind mit bisherigen freiheitlichen Ordnungsvorstellungen von Rechtsstaat, Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft. Das wird auch die traditionelle Katholische Soziallehre verändern.

Wer hätte gedacht, daß solche Einschränkungen individueller Freiheiten und staatlich garantierter Freiheitsrechte so schnell und lautlos über die Bühne gehen können? Nicht einmal die öffentlich-rechtlichen Repräsentanten christlicher Religionsgemeinschaften haben gegen die problematischen Einschränkungen der Religionsfreiheit energisch protestiert.

Aber wogegen – und wofür? Die Natur, oft verklärt als göttliche Schöpfung, die es unbedingt zu „bewahren“ gilt, sorgt zuweilen für Chaos und Katastrophen, die keiner gewollt hat. Auch nicht die modernen Fortschrittsakteure und Verteidiger einer naturnotwendigen Evolution von Mutation und Selektion: Sie entpuppen sich als Reaktionäre, die nun hektisch versuchen, alte, als positiv empfundene Zustände und Gewohnheiten zu konservieren. Auf ungeplante Ereignisse und Entwicklungen der natürlichen Art kann man nur noch reagieren. Sie kommen und gehen hoffentlich „von alleine“. Die modernen Fortschrittler ergehen sich derweilen im rasenden Stillstand und erwarten gläubig die Entdeckung oder Erfindung neuer Impfstoffe und Heilmittel, die leider nicht so schnell auftauchen wie die Mutanten.

Daß sich Corona wie frühere Pestilenzen nicht auch als eine „Strafe“ oder wenigstens „Warnung“ Gottes interpretieren lassen, die zu Reue und Umkehr bewegen, wie es die heiligen Schriften und spätere Theologengenerationen nahelegen, dürfte für moderne Theologen kaum noch diskutierbar sein. Für sie spielen Begriffe wie „Vorsehung“ oder „Schicksal“ keine Rolle mehr, es sei denn, wenn sie sich mit aktuellen Vorstellungen von Umwelt und Natur vereinbaren lassen, die automatisch zurückschlagen, wenn man sich gegen sie „versündigt“ hat: Corona als Strafe einer Natur, die Gott gesetzt oder vielmehr ersetzt hat?

Im verschärften Konkurrenzkampf um öffentliche Aufmerksamkeit haben philosophisch-theologische Sinnfragen keine mediale Chance, sondern werden privatisiert. Aber immerhin: Waren es noch vor einigen Monaten Probleme wie Klima, Migration, Gender, Brexit und Terrorismus, so hat inzwischen ein winziges Virus den globalen Wettbewerb um die größte Beachtung gewonnen. Letztes Jahr noch haben viele das Virus mit der bei uns üblichen Grippe gleichgesetzt und damit domestizieren wollen. Aber die „chinesische“ (wie vormals die „spanische“) Grippe wollte sich nicht national eingrenzen lassen, sondern erwies sich als weltweit tödliche Seuche, die man nun raffiniert mit dem „Klimawandel“ zu kombinieren versucht.

Und was ist mit den Kirchen, die einst als Gralshüter der Verfassung galten? Sie sind mit der eigenen schwindenden Reputation und der Sicherung ihrer finanziellen Basis derart beschäftigt, daß sie sich eine eigene Wahrheitsfindung nicht mehr leisten können.

Sie reicht bis zu den Aktienmärkten, zum Flugverkehr, zur Inflation, zu religiösen Veranstaltungen und zum Einzelhandel, wo es zu Hamsterkäufen kam – und zu massenhaften Pleiten und auch Protesten. Das alles sind Fragen, die sich die „normalen, einfachen“ Bürger stellen, und zwar aus eigener Erfahrung und Betroffenheit. Sie lassen sich nicht gerne besänftigen und vertrösten, etwa mit Hinweisen auf abstrakte künftige Probleme, die ja noch viel gravierender seien als die konkret erfahrbaren. Sie fragen natürlich zunächst nach den Beeinträchtigungen, die sie aktuell und hautnah erleiden.

Beachtung verdient derweil, wer auf Realität statt Konstruktion setzt. Im Mittelalter wurden Epidemien wie Pest und Cholera als Warnung Gottes empfunden, die zur religiösen Umkehr drängte. Heute sind sie eher Anlässe zur Projektion und Verfolgung von Sündenböcken geworden. Die Corona-Malaise und Maskerade ist noch lange nicht überwunden, und die Regierungen richten sich nicht nur auf eine dritte, sondern auf eine „Dauer-Welle“ ein: mit immer neuen Vorschriften und Verboten, welche die freiheitlich-demokratische Grundordnung untergraben.

Spätestens hier hatte das normative Denkmal unserer grundgesetzlichen Ordnung gefährliche Risse bekommen. Weitere Blessuren sind von rechtspolitischer, also parteipolitischer Seite jederzeit zu erwarten, seitdem man erfahren kann, wie mit verbindlichen Texten der Rechtsordnung „umgegangen“ wird. Schon durch die Auswahl der Richter und der von ihnen zu erwartenden Entscheidungen vermindert sich das Vertrauen in eine unabhängige Justiz.

Und was ist mit den Kirchen, die einst als Gralshüter der Verfassung galten? Sie sind mit der eigenen schwindenden Reputation und der Sicherung ihrer finanziellen Basis derart beschäftigt, daß sie sich eine eigene Wahrheitsfindung nicht mehr leisten können.

Mir scheint, daß die einschneidenden Maßnahmen gegenüber christlichen Gottesdiensten und Sakramentenspendungen hierzulande erheblich über das Ziel, Ansteckungen zu vermeiden, hinausgegangen sind. Na und? Es war immer so, als sich die Kirchen als Vollzugsorgane staatlicher Vorgaben verstanden. Aber wohl doch nicht in einer demokratisch und rechtsstaatlich verfaßten Ordnung. Dort müßte es privaten, kirchlichen wie auch staatlich organisierten Akteuren als peinlich undemokratisch erscheinen, parteipolitisch erwünschte Regulierungen autoritär durchzusetzen.

Gott sei Dank gibt es immer noch eine Caritas, die auch über das Lebensende hinaus zu trösten weiß. Und Seelsorger, welche bis zum Lebensende die Sakramente spenden.






Prof. em. Dr. Wolfgang Ockenfels OP, Jahrgang 1947, ist Dominikanerpater, Publizist und lehrte als Ordinarius für christliche Sozialethik an der Theologischen Fakultät Trier.

Foto: Sanctus, Sanctus, Sanctus: Von wem oder was erwarten wir das Heil – von einem Heilmittel für unser irdisches Leben? Oder vom auferstandenen Herrn allen Lebens?