© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Der Nil bleibt ein Mythos
Der norwegische Geograph Terje Tvedt hat ein spektakuläres Porträt des afrikanischen Stromes gezeichnet
Ludwig Witzani

Die Frage nach den Quellen des Nil gehörte lange Zeit  zu den letzten Rätseln der Entdeckungsgeschichte. Woher kamen die ungeheuren Wassermassen, die seit Jahrtausenden Ägypten überschwemmten, und was hatte es mit dem sagenhaften Priesterkönig Johannes auf sich, der im dunklen Süden Afrikas an den Ufern des Nils herrschen sollte? Jahrhundertelang durchwanderten Missionare, Spione und Entdecker Sümpfe, und Dschungel auf der Suche nach den Quellen des Nil. Immer weiter nach Süden verschob sich die mutmaßliche Quelle, bis endlich Henry Morton Stanley 1875 das Ruwenzori-Gebirge im Süden des Viktoriasees als den Ursprung des Nils identifizierte. Mittlerweile geht man aber davon aus, daß der gigantische Strom zwei Quellflüsse hat. Der längere von beiden ist der Kagera. Sein Quellbach ist der Luvironza, der in Burundi entspringt. Von dort aus bis ins Mündungsdelta am Mittelmeer sind es 6.671 Kilometer. Der zweite und kürzere Quellfluß des Nils ist der Rukarara. Er entspringt im Süden des burundischen Nachbarstaates Ruanda. 

Was ist das für ein Strom, der mit seiner Länge mit dem Amazonas um den Rang des längsten Flusses der Erde konkurriert? Folgt man dem norwegischen Universalgelehrten und Geographen Terje Tvedt, handelt es sich um einen durch und durch „paradoxen Fluß“, dessen geschichtliche und geographische Sonderstellung sich nicht aus seiner Länge oder seinem Wasserreichtum, sondern aus seiner bizarren hydrologischen „Persönlichkeit“ ergibt. Sie beruht auf einem komplexen, alljährlich ablaufenden atmosphärischen Großgeschehen, bei dem die Wolken den nordafrikanischen Kontinent passieren, um weiter südlich das verdunstende Wasser aus Regenwäldern und Seen in sich aufnehmen. 

Schwer beladen überqueren sie den „ofenheißen Sudan“, bis sie auf die viertausend Meter hohen Berge des äthiopischen Hochlandes treffen. Dann öffnen sich die Schleusen des Himmels und bis zu 120 Milliarden Kubikmeter Wasser gehen über dem Hochland von Äthiopien nieder, von denen aber nur magere drei Prozent in Äthiopien verbleiben. Der weit überwiegende Rest fließt aus dem äthiopischen Hochland über den Blauen Nil nach Ägypten. Neunzig Prozent des Nilwassers, das die Existenz Ägyptens sichert, entstammt dem jahreszeitlichen Anschwellen des Blauen Nil. 

Neue Staudammprojekte gefährden Wasserversorgung

Der Weiße Nil, der den Blauen Nil bei der sudanesischen Hauptstadt Khartum trifft, ist dagegen ein viel ruhigerer Geselle. Er entspringt südlich des Viktoriasees, ist erheblich länger und im Schnitt meist wasserärmer, weil die Hälfte seiner Feuchtigkeit im sudanesischen Sudd, einem der größten Sümpfe der Erde, verdunstet. Ab Khartum fließen Blauer und Weißer Nil, nunmehr vereint, als sogenannter „Fremdlingsfluß“ durch tausend Kilometer Wüste, bis seine Wassermassen die Nilkatarakte erreichen, an denen der Assuan-Staudamm seit zwei Generationen das Gesicht des unteren Nil, zuvor von jährlichen Überschwemmungen geprägt, vollkommen verändert hat. Wenn der Nil schließlich Kairo passiert und über seine beiden Deltaarme das Mittelmeer erreicht, hat er elf Staaten und etwa tausend Stammesgebiete durchquert. 

Soweit die geographischen Basisdaten des Nil, die in dem vorliegenden Buch spannend wie eine Kriminalgeschichte entfaltet werden. Aber die Perspektive des Autors geht weit über diese rein geographische Betrachtung hinaus. Sein Thema ist der Nil nicht als Kulisse, sondern als Protagonist, der wie ein Subjekt die Geschichte aus sich heraustreibt. Mit diesem Blickwinkel, der stark an Fernand Braudels Mittelmeerbuch erinnert, nimmt der Autor den Leser an die Hand und führt ihn von der Hafenstadt Alexandria am Mittelmeer bis zu den südlichsten Quellflüssen des Nil in Ruanda und Burundi. Die Anschaulichkeit und Prägnanz, mit denen die wechselnden Stationen am Riesenstrom beschrieben werden, machen das Buch ganz nebenbei zu einem Reisebuch der Spitzenklasse. 

Das Werk geht aber nicht nur in die Breite, sondern auch in die Tiefe, denn der Autor folgt dem Fluß bis in die kleinsten Verästelungen seiner Geschichte. Jede Biegung des Nil erzählt eine neue Geschichte, jeder Hügelkamm erinnert an ein anderes Drama. Sei es der Plan der Zionisten, das neue Israel in Kenia zu gründen, sei es der äthiopisch-eritreische Konflikt, der bis in die italienische Kolonialzeit zurückreicht, oder der Völkermord von Ruanda, sei es die Sezession des südlichen Sudan oder die Entdeckung der Wiege der Menschheit im Hochland von Äthiopien – überall zieht der Autor lange Linien, hinter denen die Kontur des großen Stroms erkennbar wird. 

Aber auch die Gegenwart kommt nicht zu kurz, denn seitdem die Anrainerstaaten des Nil darangehen, mit gewaltigen Staudammprojekten ihre Territorien besser zu bewässern, wird das Wasser knapp. Schon mehrfach standen Ägypten und Äthiopien wegen Regulierungen und Wasserentnahmen am Rande eines Krieges. 

Als Augenzeuge vor Ort und Gesprächspartner maßgeblicher Politiker bewahrt sich der Autor dabei trotz seiner Freude an mitunter recht ausschweifenden Exkursen einen klaren Blick für die Wirklichkeit. Angesichts der Errungenschaften der europäischen Kolonialzeit wie der Infrastrukturentwicklung und der Seuchenbekämpfung gelangt er zu einer ausgewogenen Bewertung des Kolonialismus. Das anmaßende Verhalten mancher NGOs, die wie in Eritrea schalten und walten wollen wie souveräne Staaten, befremdet ihn – ebenso wie das Armutsnarrativ, das der Musiker Bob Geldof und andere von Afrika in der ganzen Welt verbreiten. 

Fruchtbare Landschaften sind im Sudan entstanden

Denn es gibt auch durchaus gute Nachrichten vom großen Strom zu berichten. Ruanda ist aus der Agonie des Völkermordes der Hutu an den Tutsi von 1994 erwacht, im Sudan sind neue, fruchtbare Landschaften erblüht, und die Fischbestände des Viktoriasees erholen sich. Diese positiven Veränderungen basieren auf vorsichtigen und verantwortlichen Eingriffen in die Nilnatur, die der Autor unter dem Begriff der „Tiefenökologie“ zusammenfaßt. Diese Tiefenökologie hat viel gemein mit den Glaubenssätzen der Nilmythologie, in denen die Ehrfurcht vor dem großen Fluß dominiert. 

Wie eine Warnung zitiert Terje Tvedt dazu eine Prophezeiung über den Tanasee, einen der Ursprünge des Blauen Nil: „In den Tiefen des Sees befinden sich ein heiliges Goldkreuz sowie ein Schatz aus Gold und Silber, die nicht eher entdeckt werden, bis die Ferengis, die weißen Männer, den See entwässern und austrocknen. Dann wird sich der Teufel erheben und die Menschen zu sich rufen, und das Ende der Welt ist gekommen.“

Terje Tvedt: Der Nil. Fluß der Geschichte. Ch. Links Verlag, Berlin 2020, gebunden, 592 Seiten, 35 Euro