© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Pikante Offenbarungen
Tyler Kent und die Geheimkorrespondenz zwischen US-Präsident Roosevelt und Winston Churchill
Walter T. Rix

Genau an jenem Tag, dem 20. Mai 1940, an dem die Panzerspitzen der Wehrmacht bis zur Kanalküste vorgestoßen waren und das britische Expeditionskorps in nahezu ausweglose Bedrängnis brachten, zertrümmerten Agenten des britischen Geheimdienstes MI5 und Beamte von Scotland Yard unter Verletzung diplomatischer Immunität die Eingangstür einer Londoner Wohnung. 

Es war die Privatwohnung des US-amerikanischen Botschaftsangestellten Tyler Kent, der in der Londoner Botschaft der USA das Chiffrieren besorgte und damit eine Position von entscheidender Bedeutung, eine Schlüsselstellung, innehatte. Die Wohnungsdurchsuchung förderte mehr als 2.000 Unterlagen von Interesse zutage. Bereits ein flüchtiger Blick auf das Material verschlug den Untersuchenden die Sprache. Ein wesentlicher Bestandteil war die persönliche, aber höchste staatspolitische Entscheidungen betreffende Korrespondenz zwischen Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill, die nicht nur am Parlament und der Öffentlichkeit vorbei geführt wurde, sondern die darüber hinaus politische Ziele ansprach, die im Gegensatz zu den öffentlichen Erklärungen der Politiker standen. Auch in seiner Funktion als First Sea Lord durfte Churchill nicht derart weitreichende und bindende Verhandlungen hinter dem Rücken des Premiers Neville Chamberlain führen. 

Tyler Kent hatte die am 11. September 1939 beginnende Korrespondenz teils aus politischem Kalkül und teils aus ethischen Erwägungen in der Absicht kopiert, die Abschriften später bei den politischen Auseinandersetzungen in den USA im Interesse der isolationistischen Republikaner zu verwenden. Hinsichtlich seiner Persönlichkeit hatte es seine soziale Umgebung nicht einfach mit ihm. Am 24. März 1911 in Yingkou, China, als Sohn eines Konsularbeamten geboren, kam er erst mit neun Jahren in die USA. Zwar durchlief er dort die traditionelle Universitätsausbildung, quälte sich aber gleichzeitig mit seiner Identitätsfindung, bis er schließlich den Wertekanon der amerikanischen Südstaaten adaptierte. 

Es wurde deutlich, daß Roosevelt einen Krieg plante

Die aristokratische Ausrichtung der Oberschicht mag sein ausgeprägtes Selbstbewußtsein und die teilweise herablassende Haltung erklären. Sein Individualismus machte ihn zum Einzelgänger. Aber er hatte zugleich ein Faible für jene Frauen, von denen man im Interesse der eigenen Karriere besser die Finger läßt. Schon früh zeigte sich seine sprachliche Gewandtheit; er beherrschte Deutsch, Russisch, Französisch und Italienisch. Roosevelt brachte er Vertrauen und Bewunderung entgegen, bis das positive Bild infolge des gewonnenen Hintergrundwissens abrupt und schmerzhaft zusammenbrach. Dieser Orientierungsverlust muß ihn derart getroffen haben, daß er den Treuebruch gegenüber seinem Dienstherren als gerechtfertigt ansah. 

In krasser Weise machte die Korrespondenz deutlich, daß Roosevelt mit gespaltener Zunge sprach. In der Öffentlichkeit benutzte er das isolationistische Ticket, indem er den Amerikanern versicherte: „Ich habe es bereits gesagt und werde es immer wieder sagen: Eure Söhne werden in keinen fremden Krieg geschickt.“ Tyler Kent fiel es wie Schuppen von den Augen, als er entdeckte, daß der US-Präsident in Wirklichkeit seinem Gesprächspartner den Kriegseintritt versprach und bereits nach Wegen suchte, die Neutralitätsgesetze zu umgehen. Dabei schreckten beide nicht davor zurück, sogar konkrete militärische Pläne zu entwickeln. So erklärte Churchill bereits zu diesem Zeitpunkt, daß er Norwegen zu besetzen gedenke, um Deutschland von der Erzzufuhr abzuschneiden. Seinerseits bot Roosevelt an, daß die amerikanische Marine England über die Positionen deutscher U-Boote informieren würde.

Die katastrophale Lage Großbritanniens erforderte nicht nur die Mobilisierung der letzten militärischen Reserven, sondern löste auch eine extreme Jagd auf den inneren Feind aus. Hätten die Entdeckungen Tyler Kents die Öffentlichkeit erreicht, so wäre das einem politischen Erdbeben gleichgekommen. Mit Sicherheit hätte Roosevelt bei den Wahlen im Herbst 1940 das Präsidentenamt an seinen republikanischen Rivalen Wendell Willkie abtreten müssen. Da sich nach dem großen Börsenkrach vom 24. Oktober 1929 bis 1933 die Industrieproduktion der USA halbiert hatte, das Nationaleinkommen um drei Viertel gesunken und die Arbeitslosenquote von drei auf 25 Prozent geklettert war, war der Krieg das Mittel, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. 

Im Interesse aller Parteien mußte daher der potentielle Whistleblower möglichst unauffällig von der Bildfläche verschwinden. Der damalige Botschafter in London, Joseph P. Kennedy, entzog Tyler Kent unverzüglich den Status der diplomatischen Immunität. In einem für die englische Rechtsgeschichte ungewöhnlichen Geheimprozeß wurde der Angeklagte zu sieben Jahren Haft verurteilt, und zwar nicht wegen Spionage, sondern wegen Diebstahls von Regierungsdokumenten. Damit waren Roosevelt und Churchill einer Kompromittierung entgangen.

Erst in den achtziger Jahren brach Kent sein Schweigen

1945 wurde Tyler Kent mit 34 Jahren in die USA entlassen. Am 4. Dezember betrat er, von Transatlantikdampfer kommend, in Hoboken mit einer strikten Schweigeauflage wieder US-amerikanischen Boden. Er heiratete eine begüterte Witwe und lebte in Virginia als „Gentleman Farmer“, bis er durch Fehlspekulationen völlig verarmte. 1982 beabsichtigte die BBC einen Film über ihn zu drehen, der ihn als „Nazi-Sympathisanten“ charakterisieren sollte.  

Nach langem Suchen stöberte man ihn schließlich in einem Wohnwagen, einem „mobile home“, in Kerrville nahe der mexikanischen Grenze auf. Angesichts der polemischen Verzeichnung durch die BBC fühlte sich Tyler Kent nicht länger an die Schweigeauflage gebunden und versuchte in der Folgezeit seinerseits, seine Sicht des Falles in der Öffentlichkeit darzustellen. Er fand jedoch kein mediales Interesse. Nur die revisionistische Zeitschrift The Journal of Historical Review räumte ihm 1983 die Gelegenheit ein, seinen Standpunkt zu erläutern. Er starb am 20. November 1988, ohne daß sein Fall in der Zeitgeschichtsschreibung bisher größere Aufmerksamkeit erregt hätte.