© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Grillpartys zum Unabhängigkeitstag
Diverse Virus-Mutanten und wachsende Impfstoffzweifel lenken von der deutschen Corona-Misere ab
Jörg Schierholz

In Israel sind bald zwei Drittel der Bevölkerung zumindest einmal gegen das Coronavirus, geimpft. In Deutschland sind es keine elf Prozent, was allerdings schwer zu vergleichen ist, denn dort gebe es nur 9,3 Millionen Einwohner, hierzulande über 83 Millionen. Doch auch in Großbritannien, wo 67,9 Millionen Menschen leben, sind bereits 45 Prozent einmal geimpft. Die USA verzeichnen sogar insgesamt 135 Millionen Erst- und Zweitimpfungen.

Dank der milliardenschweren „Operation Warp Speed“ seines Amtsvorgängers verspricht Joe Biden: Am 4. Juli, dem Independence Day, „können wir nicht nur die Unabhängigkeit unseres Landes feiern, sondern auch unsere Unabhängigkeit von diesem Virus“. Den Grillpartys mit Familie und Freunden stünde dann nichts mehr entgegen. In Deutschland soll es erst im Herbst ein Impfangebot für jeden Erwachsenen geben.

„Versorgung der eigenen Bevölkerung sichern“

Um von dieser Misere abzulenken, wird nun vor der „dritten Corona-Welle“ und den Sars-Cov-2-Mutanten gewarnt. Denn Coronaviren können fremdes Virus-Erbgut übernehmen und sich schneller als gedacht verändern. Momentan sind es die südafrikanische Mutante B.1.351 (501Y.V2), die brasilianische P1 (501Y.V.3; B1.1.28) und die britische B.1.1.7 (501Y.V1), die die älteren Corona-Varianten verdrängen. Aus Süd­indien gibt es zudem Meldungen über eine südafrikanisch-britische Doppelmutante (E484K/L452R) – was die Exportreduzierung bei Impfstoffen erklärt: Die Lieferung ans Ausland sei davon abhängig, „ob die Versorgung der eigenen Bevölkerung gesichert ist“, erklärte Außenminister Subramanyam Jaishankar. In Indien sind derzeit 55 Millionen der 1,3-Milliarden-Bevölkerung geimpft.

Die britische Mutante B.1.1.7 wird inzwischen in vielen Regionen Deutschlands als häufigste Corona-Variante diagnostiziert. Die drei derzeit dominierenden Varianten tragen Mutationen, die wohl über Veränderungen am Spike-Protein die Übertragbarkeit des Virus erhöhen. Sie können von manchen Antikörpern nicht ausreichend gebunden werden und damit dem Immunsystem teilweise ausweichen. Laut WHO-Daten zeigten die britische Variante eine 1,3- bis 1,7fache, die südafrikanische eine 1,5fache und die brasilianische Variante eine noch höhere Übertragbarkeit. Eine neue britische Studie zeigte, daß B.1.1.7 auch eine etwas höhere Sterblichkeit hospitalisierter Patienten aufweißt.

Auch bezüglich von P1 wurde nach explosionsartigen Ausbrüchen in Manaus (Bundesstaat Amazonas) und hohen Todeszahlen eine höhere Aggressivität vermutet. Allerdings kann auch die Überlastung der brasilianischen Krankenhäuser ursächlich sein. Bezüglich B1.351 liegen noch wenig Daten vor. Damit könnten die schon bedingt zugelassenen mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna sowie die Vektor-Vakzine von Astrazeneca und Johnson & Johnson/Janssen geringer wirksam sein. Von einem erheblichen Wirkverlust ist allerdings bislang nicht auszugehen, nur die Variante P1 scheint kritischer.

Was bedeutet das für die jetzigen Pandemie-Bewältigungsstrategien? Der schnelle Rückgang der Erkrankungszahlen in Großbritannien, Irland und Portugal spricht dafür, daß das Problem neuer Corona-Varianten beherrschbar ist – wenn richtig gehandelt, organisiert getestet und auch konsequent geimpft wird. Auch die Immunität nach einer Covid-19-Erkrankung könnte länger anhalten. Die im La Jolla Institute und der University of California in San Diego durchgeführten Analysen zeigen, daß alle Typen von aktivierten Immunzellen bei den meisten Teilnehmern der Studie auch acht Monate nach der Infektion noch in nennenswerter Menge vorlagen.

Coronaspezifische Antikörper nahmen am deutlichsten ab, die T-Zellen, die virusinfizierte Zellen töten, zeigten nur einen leichten Rückgang. B-Zellen, die als immunologisches Gedächtnis fungieren, nahmen zu. Etwa 95 Prozent der Infizierten könnten ein anhaltendes immunologisches Gedächtnis aufbauen, das zumindest vor einem schweren Covid-19-Verlauf schützt. Falls aber eine Person bereits zu Beginn der Infektion weniger Antikörper, T- und B-Zellen aufweise, könne diese möglicherweise ein weiteres Mal erkranken, so eine im Science Immunology publizierte Studie.

Wie lange wirken die bislang gängigen Corona-Vakzine?

Sollte auf angepaßte mRNA-Impfstoffe von Curevac/Bayer gewartet werden, die erst zu Sommeranfang zur Verfügung stehen? Die Impfungen mit dem Astrazeneca-Vakzin (AZD1222/Covi­shield) waren anfangs ja wegen inkonsistenter Studiendaten und unzureichender Wirksamkeitsnachweise für ältere Personen ohnehin umstritten. Und nach einer Häufung von Sinusvenenthrombosen (CVST), einem selten auftretenden Blutgerinnsel im Gehirn, wurde die Impfstoffvergabe zeitweise ausgesetzt.

Der Sinus ist ein venöses Gefäß, wo das Blut vom linken und rechten Hirn zusammen- und dann abfließt. Kommt es zu Gerinnsel-Ablagerungen und Wandentzündungen, kann der Sinus langsam verstopfen. Dies erzeugt dann Sehstörungen, Kopfschmerzen, neurologische Ausfälle und Lähmungen. Es kann unbehandelt zum Platzen eines Gefäßes, einem Hirnschlag und zum Tod führen. Die Prozesse zur Blutgerinnung und Auflösung von Blutgerinnseln stehen in einem ständigen Gleichgewicht. Immunologische Reaktionen können dieses Gleichgewicht stören.

Untersuchungen von Andreas Greinacher (Uniklinik Greifswald) legen nahe, daß durch die AZD1222-Impfung angetriggerte Immunreaktionen Thrombosen vom Typ 2 einer heparininduzierten Thrombozytopenie (HIT) auslösen können. Deshalb empfiehlt die Gesellschaft für Thrombose- und Hirnforschung (GHT) bei Patienten, die ab dem fünften Tag nach der Impfung Symptome entwickeln, auf HIT-Typ 2 zu testen und bei einem positiven Nachweis intravenös Immunglobulin zu geben.

Die EU-Arzneimittelbehörde EMA untersuchte die sieben Fälle von Blutgerinnseln im mehreren Gefäßen und 18 CVST-Fälle von Sinusvenenthrombose. Sie setzte dies mit den sieben Millionen EU- und elf Millionen britischen Impflingen sowie der Anzahl von 100.000 Ungeimpften in Beziehung, bei denen jeden Monat eine Venenthrombose diagnostiziert wird. Die Pharmakovigilanzabteilung der EMA kam zu dem Schluß, daß die Anzahl thromboembolischer Ereignisse nach Impfung insgesamt geringer wäre als in der Normalbevölkerung. Der Astrazeneca-Impfstoff wäre „sicher und wirksam“, der Nutzen einer Covid-19-Prophylaxe überwiege die Risiken.

Der Astrazeneca-Impfstoff soll nun mit der Warnung versehen werden, daß er in seltenen Fällen Hirnvenenthrombosen bei Frauen unter 55 Jahren verursachen könnte. AZD1222 schützt zu 76 Prozent vor einer Corona-Infektion und nahezu vollständig vor einem schweren Covid-19-Krankheitsverlauf. Daher dürfte der britische Impfstoff als viertes Vakzin im April/Mai auch von der US-Behörde FDA zugelassen werden.

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