© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Der Flaneur
Es war der letzte Schnaps
Holger Ziehm

Ich fahre häufig an dem Haus mit der kleinen Kneipe vorbei. Kurz vor dem zweiten Lockdown war ich nochmal zu Gast. Hier ist tatsächlich die Zeit stehengeblieben. Wo gibt es noch eine solche Gastwirtschaft? So sah es in den sechziger Jahren oder sogar noch davor aus; wenn man durch die Tür kommt, macht man einen Zeitsprung. Die Theke, die Tische und Stühle, die Dekorationen, das gibt es eigentlich alles nicht mehr. 

Draußen hängt eine Bierreklame, aber nach der Marke fragt man drinnen vergeblich. Immerhin kann man zwei Biersorten bestellen, aber längst nur noch in Flaschen. Gläser gibt es auf Nachfrage, aber auf den Tischen oder an der Theke stehen selten welche. Der Haupteingang wird häufig gar nicht aufgesperrt, aber die Gäste kennen sich aus, sie betreten die Wirtschaft zielstrebig durch den Seiteneingang. Fremde verirren sich wohl nie hierher.

Beim letzten Besuch war das Lokal voll; der Gesangsverein kam zum Stammtisch vorbei.

Das Haus selbst ist alt, aber schön und gepflegt, die Bruchsteintreppe immer sauber gefegt. In der Adventszeit stand ein kleiner Weihnachtsbaum oben vor der Außentür. Das Beste ist jedoch die Wirtin, sie bedient an dieser Theke seit über 75 Jahren. Schon als kleines Mädchen hat sie bei den Eltern in der Gastwirtschaft aushelfen müssen. Die Gäste nennen sie „Tanti“. Ein „Sie“ gibt es hier nicht, alle sind per du. Sie geht so langsam und krumm, daß kaum jemand sich das Bier zu dem Tisch bringen lassen will. Fast alle holen sich die Getränke am Tresen ab. Tanti ist weit über 80, die Gastwirtschaft ist ihr Leben. 

Bei meinem letzten Besuch Ende Oktober mit meinem Freund Franz war das Lokal voll. Der Gesangsverein kam vorbei zu seinem Stammtisch. Über die Tische hinweg unterhielten sich die Leute, erzählten von der Zeit aus ihrem Fußballverein, als sie noch aktiv gespielt haben. Aber auch von heute, von Traktoren und Neuigkeiten aus den Dörfern. Zum Abschied gab es noch einen Schnaps – der allerletzte, wie ich nun erfahre. Franz erzählt mir, daß Tanti im Altersheim ist und die Wirtschaft nicht mehr aufmachen wird. Wie schade! Ich kenne keine schönere Kneipe.