© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Nation ist kein Auslaufmodell
Am 18. Januar 2021 jährte sich die Gründung des Deutschen Reiches zum 150. Mal. Ein vom Politikwissenschaftler Tilman Mayer herausgegebener Sammelband widmet sich dieser Nationalstaat-lichkeit, die sich im Vergleich zu einer „Weltrepublik“ oder den „Vereinigten Staaten von Europa“ sowohl durch demokratische Legitimität als auch durch gesteigerte Effizienz auszeichnet
Karlheinz Weißmann

Der Nationalstaat wurde häufig totgesagt. Aber er ist ein zähes Luder. Zuletzt hat sich das im Rahmen der Pandemie gezeigt, als plötzlich von „Masken-“ oder „Impfstoffnationalismus“ die Rede war und Erwägungen darüber angestellt wurden, ob die EU überhaupt geeignet sei, derartige Krisen zu bewältigen, oder ob doch nur der Nationalstaat Sicherheit und Versorgung seiner Bürger gewährleiste. Eine besondere historische Dimension nimmt die Frage nach der Nationalstaatlichkeit für die Deutschen an, da ihr moderner Nationalstaat gerade 150 Jahre alt wurde. Die Reichsgründung als Ausgangspunkt einer bis in die Gegenwart reichenden Entwicklung zu betrachten, ist allerdings aus der Mode gekommen. Schon deshalb greift man interessiert zu einem Buch, das diese Linie zieht.

Da es sich um einen Sammelband handelt, darf man keine einhelligen Positionen erwarten, aber etwas wie eine Generaltendenz gibt doch die Einführung des Herausgebers Tilman Mayer vor: „Lebenslüge – ‘kein Zurück zum Nationalstaat klassischer Prägung’“. Mayer bezieht sich damit auf eine Äußerung Helmut Kohls, der im Zuge der Wiedervereinigung eben das behauptet hatte: daß es „kein Zurück zum Nationalstaat klassischer Prägung“ gebe. 

Wenn Mayer diese Formel eine „Lebenslüge“ nennt, meint er allerdings eine Selbsttäuschung, der sich im Grunde alle führenden Politiker der Nachkriegszeit ergeben haben. Sie hofften nicht nur, daß sich mit einem entsprechenden Mantra das Neuaufflammen des radikalen Nationalismus verhindern lasse, sondern auch, daß die Deutschen wie alle Welt durch den Fortschritt der Dinge von ihrer nationalen Existenz erlöst würden.

Warum es dazu nicht gekommen ist und auch in Zukunft nicht kommen wird, erläutert Henning Ottmann in seinem Beitrag, der sich vor allem mit den Alternativen zum Nationalstaat – Weltrepublik und Vereinigte Staaten von Europa – beschäftigt und schließt, daß weder im einen noch im anderen Fall mit demokratischer Legitimität oder gesteigerter Effizienz zu rechnen sei. Eher scheine das Gegenteil wahrscheinlich, was eindeutig für den Nationalstaat als Optimum politischer Organisation spreche. 

Den Schritt zum deutschen Fall macht Christian Hillgruber, der die völkerrechtliche Kontinuität von der Reichsgründung 1871 bis zum Einigungsvertrag 1990 nachzeichnet. Die folgenden Beiträge von Hanns Jürgen Küsters, Eckhard Jesse, Eberhard Diepgen und Wolfram Pyta, die verschiedene symbolische Aspekte des Nationalstaates behandeln, bieten zwar in der Regel (wenngleich nicht immer) solide Information, aber keine neuen Einsichten. Anders verhält es sich mit dem Aufsatz von Werner Plumpe, der ein sehr eindrucksvolles Bild der „Veränderungsdynamik“ des Kaiserreichs auf den Feldern der Wirtschaft, der Infrastruktur, des Schul- und Hochschulwesens zeichnet und mit der hübschen Paradoxie endet, daß die erhalten gebliebenen „Quartiere der großen Städte die bevorzugen Wohnorte jener Intelligenz“ seien, „die üblicherweise an dieser Zeit kaum ein gutes Haar läßt“.

Daß viel von der Bewertung deutscher Nationalstaatlichkeit abhängt, wenn man das Werk Bismarcks zum Bezugspunkt wählt und dessen Stellung innerhalb des europäischen Systems analysiert, macht gleich eine ganze Gruppe von Beiträgen deutlich, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Etwas verkürzend könnte man sagen, daß Ulrich Schlie in diesem Zusammenhang die klassische These von der „halbhegemonialen Stellung“ des Reiches vertritt. 

Flankiert wird sein Aufsatz von den Erwägungen Brendan Simms zur Geopolitik Deutschlands. Nach Simms war Deutschland „für etwa vierhundert Jahre zu schwach“ und: „Für etwa achtzig Jahre nach seiner Vereinigung war Deutschland zu stark und bedrohte entweder den Weltfrieden oder schien es doch zu tun.“ Bemerkenswerterweise wird dieser verbreiteten Deutung von Hans-Christof Kraus mit Nachdruck widersprochen. Entscheidend ist aus seiner Sicht, daß die Vorstellung, Deutschland habe durch sein schieres Vorhandensein das europäische Gleichgewicht bedroht, auf einer verzerrten Perspektive beruhe: „Das Deutsche Kaiserreich scheiterte nicht an seiner Größe, nicht daran, daß es ‘Halbhegemon’ war oder vor 1914 europäischer Hegemon werden wollte.“ Diese Feststellung gelte trotz seiner Bevölkerungszahl, seiner militärischen Stärke und seiner ökonomischen Potenz. Denn um von einer „halbhegemonialen“ oder „hegemonialen“ Stellung sprechen zu können, hätte das Reich über ganz andere Ressourcen verfügen müssen, die ihm aber nicht zur Verfügung standen. 

Das schien sich in der Frühphase des Ersten Weltkriegs und dann noch einmal nach 1938 – zwischen dem „Anschluß“ Österreichs und dem Sieg über Frankreich – zu ändern. Aber relativ rasch wurde das Fehlen einer ausreichenden Basis deutlich, die notwendig gewesen wäre, um tatsächlich zur Vormacht des Kontinents aufzusteigen. Die militärischen Niederlagen von 1918 wie 1945 hatten deshalb eine gewisse innere Logik. 

Allerdings bleibt Kraus nicht bei dieser Bilanz stehen. In einem für den Historiker außergewöhnlich temperamentvollen Schluß kommt er auf die Gegenwart zu sprechen. Die sieht er vor allem von Realitätsverlust geprägt, wenn einerseits über die neue „Hegemonie“ der „Mittelmacht“ Deutschland schwadroniert und gleichzeitig das dauernde Übergewicht der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs ignoriert werde. Das Ungesunde der Situation besteht nach Kraus darin, sich über die Tatsachen keine Rechenschaft zu geben und – ob mit guter oder böser Absicht – den politischen Wirklichkeitssinn zu schwächen.

Leider muß man feststellen, daß in den letzten Aufsätzen – von Rainer Marcowitz über die deutsch-französischen Beziehungen, von Ulrich Lappenküper über Versailles als Erinnerungsort und von Michael Gehler über die europäische Integration – diese Erkenntnis kaum beherzigt wurde. Inhaltlich und in bezug auf die vorgenommenen Bewertungen sind sie konventionell im schlechteren Sinn des Wortes. Ein Manko, das für Sammelbände aber eher typisch und in diesem Fall hinnehmbar ist, angesichts der Qualität, die dem Leser sonst geboten wird.

Tilman Mayer (Hrsg:): 150 Jahre Nationalstaatlichkeit in Deutschland. Essays, Reflexionen, Kontroversen. Nomos Verlag, Baden-Baden 2021, broschiert, 338 Seiten, 49 Euro