© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Mißdeutete Provokationen
Die Historikerin Hedwig Richter räumt volkspädagogisches Tafelsilber ab und stiftet für die Bunte Republik eine neue Identität
Dirk Glaser

Mit immerhin schon 43 Jahren war die Historikerin Hedwig Richter etwas spät dran, als sie sich 2016 aufgrund ihrer vergleichenden Studie über „Moderne Wahlen“ in Greifswald habilitierte. Anschließend kam die Karriere der Privatdozentin jedoch im Eiltempo voran, und im Januar 2020 saß sie auf einem Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Seitdem hat sich die für FAZ, taz, Zeit und Süddeutsche Zeitung schreibende, auch sonst medial omnipräsente und vielfach dekorierte Historikerin erfolgreich in die erste, zumeist von männlichen Kollegen besetzte Reihe der hauptamtlichen Bewirtschafter des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen gedrängt. Und wenn Richter einen ihrer vielen Preise empfängt, hält mittlerweile Wolfgang Schäuble (CDU), der Bundestagspräsident, die Laudatio.

Trotzdem erfährt Richter derzeit, was ein Titan wie Theodor Mommsen seiner Zunft vor 150 Jahren attestierte: „Die große Masse der Collegen ist gemein und gering, und das Geschäft dazu angetan, diese Eigenschaften zu schöner Blüte zu entwickeln.“ In Besprechungen ihres bis jetzt in drei Auflagen erschienenen Bestsellers „Demokratie. Eine deutsche Affäre“ (JF 43/20) bläst dem Medienliebling kräftiger Wind ins Gesicht. Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), nennt das Werk „ein veritables Ärgernis“ und „ein durch und durch unseriöses Buch“, das „systematisch all jene wissenschaftlichen Standards unterschreitet“, die Studenten im Proseminar zu vermitteln seien (www.sehepunkte.de, Nr. 3/2021). 

Christian Jansen (Trier) springt Wirsching bei, wenn er den „emotionalen Überschwang“ moniert, aus dem ihre reichlich „journalistisch“ anmutende „Geschichtsschreibung als leicht konsumierbare ‘Serie’“ entstanden sei, die voller „Banalitäten, schräger Metaphern, Stilblüten und unscharfer Terminologie“ stecke (www.hsozkult.de vom 9. Februar 2021). Ganz sicher spielt hier, wie ihr  ritterlicher Verteidiger Patrick Bahners unterstellt (FAZ vom 17. März 2021), der blanke Neid älterer, um ihre Diskursherrschaft fürchtender „Collegen“ eine wichtige Rolle.

Aber in der Sache, wie Bahners zumindest andeutet, sind es wirklich Richters „Provokationen“, die Geschichtsideologen wie Wirsching und den von Sozialdemokraten wie Hans Mommsen akademisch sozialisierten Jansen in Rage bringen. Diese Provokationen sind in Richters jüngster Publikation, einem Essay über die „Massenpolitisierung im Kaiserreich“, der kaum mehr ist als eine Kurzfassung ihrer „Deutschen Affäre“, rasch zu repetieren: Das deutsche Kaiserreich sei kein „quasiabsolutistischer Obrigkeitsstaat“ gewesen, seine Bevölkerung bestand weniger aus Untertanen denn aus „freien und zunehmend politisierten Bürgern“. Daher sei auch nirgends ein vom vermeintlich vorbildlichen „Westen“ abweichender „Sonderweg“ zu entdecken, da Deutschland stets Teil dieses Westens gewesen sei. 

Vielmehr habe sich das Kaiserreich als „recht gewöhnlicher Staat im Herzen Europas“ etabliert, der der Demokratie zur gedeihlichen Entwicklung den einzigen angemessenen Rahmen bot, den nationalstaatlichen. In den von Wirschings und Jansens Lehrergeneration, den Wehlers und Winklers, verhimmelten USA habe hingegen stets „der schwache Rechtsstaat das demokratische Gleichheitsversprechen vereitelt“. Nicht zu reden vom Einfluß des „rassistischen Südens“ auf die US-Politik oder von der „Gewaltaffinität der Bevölkerung und der Entrechtung breiter Bevölkerungsgruppen“. 

Auch sei es dem Kaiserreich gelungen, die Massen zu integrieren, dem selbsternannten Mutterland der Demokratie aber nicht: In Frankreich „war die Alphabetisierung eher schwach, die Gesellschaft gespalten, der Katholizismus verhaßt, die Anarchisten wurden verfolgt“. Und schließlich, dies der größte Aufreger, lägen im Kaiserreich nicht nur die Wurzeln des Nationalsozialismus, sondern auch die der demokratischen Zeit danach, die Wurzeln Weimars und der Bundesrepublik. Überdies, und hier spätestens verlangen Wirsching und Jansen nach ihrem Riechsalz, fügt Richter auch noch den nationalsozialistischen „Volksstaat“ (Götz Aly) in die deutschen demokratischen Traditionen ein. 

So räumt Richter also Stück für Stück des geschichtspolitischen Tafelsilbers, die „Pauschalisierungen und Vereinfachungen der älteren Forschung“ ab. Ziel ihres für professionelle bundesdeutsche Volkspädagogen bitter nach „Revisionismus“ schmeckenden Plädoyers für eine Neubewertung des Kaiserreichs ist es jedoch keineswegs, wie Wirsching giftet, „neonationalistischen Kräften in die Hände zu spielen, die die deutsche Geschichte gerne im Sinne einer gerade im internationalen Vergleich harmlos-demokratischen Linearität umschreiben würden“. Da sei Gott und das IfZ vor!

Richter ist alles andere als eine Verteidigerin des Nationalstaates. Denn für sie ist das Kaiserreich nur ein Durchlauferhitzer, der das „Nationalstaatsprojekt“, wie es in ihrem penetranten Homo-Faber-Jargon heißt, im „nordatlantischen“, letztlich „globalen normativen Projekt“ aufhebt, um das universalistische „Narrativ“ vom unaufhaltsamen Fortschritt Richtung Freiheit und Gleichheit zu bedienen. Soweit „Bindungsgefühle“ für die Reste des „nationalen Selbstverständnisses“ der Bunten Republik Deutschland überhaupt noch erforderlich sind, so suggeriert Wolfgang Schäubles Büroleiter Hilmar Sack in einer Erinnerung an „150 Jahre Reichstag“ (Die Zeit vom 18. März 2021), können sie mit Richters handwerklich tatsächlich grottenschlecht gemachten Al-Fresco-Malereien locker erzeugt werden. 

Hedwig Richter: Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, broschiert, 175 Seiten, 16 Euro