© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Eine merkwürdige Beziehung
Thomas Wagner über die Annäherung des NS-verfolgten Lyrikers Erich Fried an den Neonazi Michael Kühnen
Thorsten Hinz

Die beiden Männer, deren „deutsche Freundschaft“ in diesem Buch dokumentiert und beleuchtet wird, hätten unterschiedlicher nicht sein können. Der Ältere, Erich Fried, das einzige Kind jüdischer Eltern, wurde 1921 in Wien geboren. Der Anschluß Österreichs bedeutete für die Familie eine Katastrophe. Der Vater starb 1938 an Mißhandlungen durch die Gestapo, die Großmutter wurde in Auschwitz umgebracht. Der junge Fried konnte nach England emigrieren. 

Er war zeitlebens ein radikaler, aber undogmatischer Linker und bekennender Antifaschist. Er verfaßte zahllose Gedichte, verstand sich als politischer Autor und engagierte sich in der Friedensbewegung. 1987 erhielt er den Büchner-Preis. Als er ein Jahr später starb, taxierte Marcel Reich-Ranicki im Nachruf die Auflage seiner Bücher auf 300.000 Exemplare – für einen Lyriker eine schier unglaubliche Zahl. Allerdings handelte es sich vor allem um politische Gebrauchslyrik. Nichts, was an die Gedichte von Bachmann, Benn, Bobrowski oder Huchel heranreicht. Heute ist sein Werk weitgehend vergessen.

Der Jüngere, Michael Kühnen, Jahrgang 1955, war Absolvent eines katholischen Gymnasiums in Bonn. In den 1970er und 1980er Jahren war er als Deutschlands bekanntester Neonazi eine öffentliche Figur. Auf ihn traf die inflationär gebrauchte Bezeichnung tatsächlich zu. Mit ihrem pejorativen Beigeschmack konnte er freilich nichts anfangen, verstand er sich doch als stolzer Nationalsozialist. Mit seiner „Aktionsfront Nationaler Sozialisten“ trat er für die Wiederzulassung der NSDAP und eine zweite Machtergreifung ein. Den organisierten Massenmord an den europäischen Juden bestritt er. Kühnen war dabei kein zu kurz Gekommener, sondern ein allseits begabter und gebildeter junger Mann, der einen Offizierslehrgang bei der Bundeswehr absolvierte, die Kampftruppenschule Hammelburg als Jahrgangsbester abschloß und eine Ausbildung zum Einzelkämpfer bestand. 1977 aber wurde er unehrenhaft aus der Bundeswehr entlassen, nachdem in der Kaserne NS-Propagandamaterial entdeckt worden war.

Die Freundschaft zwischen Fried und Kühnen begann 1983 mit einem verhinderten Fernseh-Auftritt bei Radio Bremen. Kühnen war eingeladen worden, in einer Talkshow über den erstarkenden Neonazismus zu diskutierten. Als er beim Sender eintraf, wurde ihm die Ausladung mitgeteilt. Ein breites Bündnis von der Antifa bis zur CDU hatte gegen seinen Auftritt protestiert, was den Rundfunkrat zur kurzfristigen Absage veranlaßte. Staunend verfolgte er am Bildschirm, daß Fried den Vorgang mißbilligte, worauf er ihn telefonisch in der Studiokantine kontaktierte. Es entstand eine persönliche, in 16 Briefen niedergelegte Beziehung.

Kühnen hatte zu dem Zeitpunkt bereits eine mehrjährige Haftstrafe wegen Volksverhetzung, Aufstachelung zum Rassenhaß und Gewaltverherrlichung verbüßt. Als er erneut angeklagt wurde, bot Fried dem Gericht ein Leumundszeugnis für ihn an. Nach der Verurteilung betrachtete er Kühnen als politischen Gefangenen, besuchte ihn im Gefängnis und setzte sich bei Amnesty International für ihn ein.

Die zitierten Briefpassagen sind von einem freundschaftlichen, streckenweise zärtlichen Ton erfüllt. Der Buchautor Thomas Wagner sieht darin eine imaginierte Vater-Sohn-Beziehung. Erotische Motive können indes ausgeschlossen werden. Kühnen war bekanntermaßen homosexuell, bevorzugte aber jüngere Männer. Er starb 1991 an den Folgen von Aids. Fried interessierte sich ausschließlich für Frauen, die sein Interesse trotz einer angeborenen Gehbehinderung gern erwiderten.

Frieds Antifaschismus war human grundiert. Wer gegen die Isolationshaft von RAF-Mitgliedern protestiere, dürfe über die Gefangenschaft des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß nicht schweigen, obwohl das „unbequem“ sei. Der Antifaschist dürfe im Andersdenkenden keinen Feind oder einen Menschen zweiten Ranges sehen. „Er soll die eigenen Schwächen nicht durch Selbstgerechtigkeit und Überschätzung der eigenen Theorien ausgleichen wollen.“

Er beharrte darauf, daß seine Mitschüler, die der in Österreich verbotenen NSDAP angehört hatten, „keine wesentlich schlechteren oder dümmeren Jungen waren als ihre jüdischen oder antifaschistischen Mitschüler“. Statt sich gegenseitig zu denunzieren, hätte man die anderen bei illegalen Plakat-aktionen vor der Polizei gewarnt. Fried gestand Kühnen genauso wie der RAF einen idealistischen Antrieb zu.

Kühnen versicherte ihm, kein Rasse-Antisemit zu sei. Was ihn veranlaßte, diese Freundschaft zu pflegen, bleibt im Bereich der Mutmaßungen. Suchte er menschliche, väterliche Wärme, die er zu Hause vermißt hatte, die er auch bei seinen – oft schwulenfeindlichen – Kameraden nicht fand, nicht finden konnte? Auf eine vorsichtige Bemerkung Frieds reagiert er schroff. Wollte er im Austausch mit einem zur Diskussion bereiten weltanschaulichen Gegner das eigene Argument schärfen? Von seinen Überzeugungen konnte Fried ihn jedenfalls nicht abbringen.

Autor Thomas Wagner versucht, vorurteilsfrei den geistigen, moralischen, den menschlichen Kern dieser merkwürdigen Beziehung zu erfassen. Unter anderem stützt er sich auf Werner Bräuningers Biographie „Kühnen. Porträt einer deutschen Karriere“ und hat sich mit dem Neonazi Christian Worch unterhalten. Was Kühnen überhaupt auf seinen Irrweg brachte, bleibt jedoch offen. War es eine Reaktion auf die zunehmende antifaschistische Fixierung der Gesellschaft? Und Fried – hat er das opportunistische, letztlich inhumane Potential dieses Wertewandels erspürt? In dieser „deutschen Freundschaft“ läge dann ein überpersönlicher Sinn.

Thomas Wagner: Der Dichter und der Neonazi. Erich Fried und Michael Kühnen. Eine deutsche Freundschaft. Klett-Cotta, Stuttgart 2021, gebunden, 176 Seiten, 20 Euro