© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Kleiner machen wir es nicht
Wie Altbundeskanzler Gerhard Schöder und der Erlanger Emeritus Gregor Schöllgen nichts Geringeres als die Welt retten wollen
Peter Seidel

Weltenretter und Menschheitsbeglücker hatten schon immer eine feste Basis in Deutschland, gerade auch in der Bundesrepublik. Unvergessen ist der alte Spruch, am deutschen Wesen solle noch einmal die Welt genesen. Und trotz aller realistischen Veröffentlichungen in den letzten Jahren über Deutschlands Rolle in der Welt sind diese Hinweise offenbar ohne große Resonanz geblieben. 

„Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen“ ist der Titel einer neuen Publikation von Gerhard Schröder, Bundeskanzler a. D., 

und Gregor Schöllgen, emeritierter Geschichtsprofessor aus Erlangen. Sie wollen uns sagen, „wie es weitergehen muß, nicht zuletzt mit Deutschland und seiner Rolle in der Welt“. Sehr löblich, fürwahr. Zehn Kapitel liefern interessante Länderstudien, unter ausführlicher Berücksichtigung der Geschichte bis ins 19. Jahrhundert, zu China, zu den USA, auch zu Rußland. Sie schauen auf den asiatischen Halbmond, das kurdische Viereck, den Nahostkonflikt, den Persischen Golf, auf Zentralafrika und auf die Europäische Union. Ausführungen zu den Themen „Wo wir stehen“ und „Was zu tun ist“ runden das Buch ab.  

Besonderes Interesse verdienen die Handlungsvorschläge im Schlußkapitel sowie das Europakapitel. Aber: Eine „Sicherheitsarchitektur, die Rußland einschließt“, ist doch sehr fraglich. Sicherlich gibt es ein „strukturelles Defizit: die einseitige Abhängigkeit Europas von Amerika“, doch kann man wirklich  „neue Perspektiven“ eröffnen, „löst man das Bündnis auf“? Ersetzt es durch eine „europäische Armee“? Politiker eines Landes, das seine Bundeswehr so zugrunde richtet, daß sie als Grundlage einer EU-Armee ausfällt, sollten hier doch wohl ganz still sein. „Hilflosigkeit ist armselig“, da haben die Autoren recht, doch sie beginnt zu Hause!

Unglaublich dann die weiteren Vorschläge: Eine weitere „Vergemeinschaftung der Schulden“ in der EU, eine „gemeinsame Schuldenaufnahme“ von noch mehr Schulden, eine „Durchsetzung des Mehrheitsentscheids“, als ob man nicht auch so nach dem Brexit in der Minderheit wäre und Entscheidungen der Mehrheit im EU-Ministerrat überläßt, von denen man sich dann im nachhinein freikauft? Nicht zu vergessen natürlich auch „der substantielle Transfer von Kapazitäten in die von Katastrophen aller Art heimgesuchten Regionen der Erde“. 

Das soll die Politik eines Landes sein, von dem es heißt: „Gewissermaßen über Nacht und im wesentlichen ohne eigenes Zutun ist Deutschland zu einem gewichtigen Akteur in der Welt geworden“? Dies ist wohl so, doch auch wenn man durchaus vorhandene systemimmanenten Zwänge einer konsequent fehlentwickelten europäischen Währungsunion nicht ignoriert, kann sich dann deutsche Politik im „Weiter so“ erschöpfen? 

Deutschland kommt in diesem Buch nur noch am Rande vor. Als hätte das Land als selbständiger Akteur abgedankt und wäre nur noch ein „Sandkorn“, wie ein Zeitungskommentator es jüngst formulierte. Ist das angemessen, entspricht es der Realität? Dann müßte man allerdings unterscheiden, ob Deutschland einfach nur das Potential eines Sandkorns hat, oder ob es sich nicht mit Ablaßzahlungen in Milliardenhöhe, insbesondere an EU, Nato und die USA, diesen Status schlicht erkaufen will. Das Thema wäre wirklich mal ein realistisches Buch wert. Doch man scheut offenbar eine realistische Debatte zur Lage der Nation, auch wenn die derzeitige Ministerin der  Verteidigung vor kurzem dazu sehr begrüßenswerte Vorschläge gemacht hat. Mal sehen, was davon übrigbleibt. Inzwischen wandern Politik und Bevölkerung, traut man den Meinungsumfragen, außenpolitisch offensichtlich immer mehr ins Nichts.

Zahlreiche außenpolitische Experten haben in den letzten sechs, sieben Jahren verstärkt Analysen und Handlungsvorschläge zur Erneuerung der deutschen Außen-, Sicherheits- und Europapolitik vorgelegt. Mitarbeiter auch regierungsnaher Thinktanks, Institutsleiter, viele Ökonomen, Rechts- und Politikwissenschaftler. Es ist traurig zu sehen, wie wenig, wenn überhaupt, davon in die praktische Politik einfließt. Die Instrumentalisierung nur genehmer Wissenschaftler in der Corona-Pandemie läßt grüßen. So manches erinnert an die alte politische Devise: „Unsere Meinung ist längst gebildet, was kommt ihr uns mit Argumenten.“

Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Auch dies ein alter deutscher Spruch, aber ein realistischer. Wenn die Autoren fragen, warum beispielsweise Nato und EU keine Rohstoffstrategie entwickelt haben (im Gegensatz etwa zu China, Rußland, den USA), dann muß man doch fragen: Und Deutschland? Hat das Land etwa eine eigene Rohstoffstrategie entwickelt? Und wenn nein, warum nicht? Wer seine eigenen Hausaufgaben nicht erledigt, hat wohl kaum das Recht, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Nord Stream 2 alleine ist noch keine Strategie! Oder kommt es nur darauf an, sich hinter anderen zu verstecken, wie insbesondere in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Europapolitik? Dieses Buch kommt einer von den Autoren sicherlich erfühlten neuen deutschen „Ohne mich“-Haltung doch sehr nahe! Es zeigt aber auch sehr deutlich, daß sich der Handels- und Exportgigant Deutschland langsam, aber sicher auch politisch mausern sollte, wenn er in Europa und der Welt auch nur irgend etwas bewegen will. Mit Partnern, gerade auch in Europa. Bücher wie das vorliegende fördern dies leider kaum.

Gerhard Schröder, Gregor Schöllgen: Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen. DVA, München 2021, gebunden, 256 Seiten, 22 Euro