© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Merkels System ist autokratisch
Der Wirtschaftsexperte Max Otte sieht im zweiten Corona-Jahr eine drohende Finanzkrise ins Haus stehen und spart nicht mit Kritik an den Eliten in Deutschland
Bruno Bandulet

Als Fondsmanager ist Max Otte eine Ausnahmeerscheinung in Deutschland. Er engagiert sich politisch. Er schreibt Bestseller. Er bezweifelt, daß das freie Spiel der Marktwirtschaft noch funktioniert. So kritisiert er die sich etablierende Wirtschaftsordnung als „Beutekapitalismus“ zum Vorteil von international agierenden Superreichen, die er sogar als demokratiegefährdend beurteilt. Er beleuchtet die Schattenseiten von Kapitalismus und Globalismus. Und er versteht es, mit seinen politischen und ökonomischen Analysen ein Bild der Welt so zu zeichnen, wie sie nun einmal ist.

Sein 2019, noch vor Corona erschienenes Buch über den „Weltsystemcrash“ bot mit mehr als 600 Seiten viel Lesestoff. Sein neues präsentiert sich kompakt und zieht eine erste Bilanz des Corona-Crashs und seiner ökonomischen und politischen Folgen. Der Text besteht durchgehend aus 99 Fragen und 99 ausführlichen Antworten. Gewählt wurde derselbe Titel, unter dem vor nunmehr zehn Jahren schon einmal ein Buch Ottes herauskam. Der Titel sei aktueller denn je, schreibt er, denn weniger denn je scheine es Regeln zu geben, und die Verwirrung habe weiter zugenommen.

Nachdem Max Otte den Börsenkrach von 2008 zwei Jahre zuvor vorhergesagt hatte, galt er lange Zeit als Crash-Guru. Das will er nicht mehr sein. Er sieht sich als Krisenerklärer, und er empfiehlt weiterhin Qualitätsaktien – und Edelmetalle. Anlagestrategien „in Zeiten von Corona“ finden sich denn auch in den letzten beiden Kapiteln des Buches. Entschieden abgeraten wird von Modethemen wie erneuerbare Energien, Biotechnologie und Medienaktien, ebenso von Kapitallebensversicherungen, deren hohe Provisionen die Rendite wegfressen, außerdem von Derivaten, Dachfonds und sogenannten grünen und nachhaltigen Geldanlagen. Daß Otte auch die sehr zyklischen Börsen der Schwellenländer nicht mag, überrascht. Tatsächlich haben sie im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts besser abgeschnitten als der DAX, dann bis 2015 schlechter und seitdem wieder besser. 

Der Autor hält die Lage für ernster als in der Finanzkrise von 2008/09. Denn zu Corona kämen auch noch zunehmende internationale Spannungen, Handelskriege und Wirtschaftssanktionen. Schon vor Ausbruch der Pandemie seien die globalen Schulden mit 87 Billionen Dollar um 40 Prozent höher gewesen als zu Beginn der letzten Finanzkrise. Jetzt sei es nicht mehr möglich, aus dem Schlamassel herauszuwachsen. „Zunächst einmal müssen die Schulden durch Inflation abgeschmolzen, die Vermögen durch Steuern und Abgaben abgeschöpft oder das Weltfinanzsystem durch geregelte Schuldenschnitte saniert werden.“

Und was ist davon zu halten, daß seit Corona ständig von Verschwörungstheorien die Rede ist? Der Begriff geht zurück, auch das erfährt der Leser, auf eine Wortschöpfung der CIA aus dem Jahr 1967, um Leute zu diskreditieren, die an der offiziellen Version des Kennedy-Attentats zweifelten. Heute sei daraus ein allgegenwärtiger, pauschaler Kampfbegriff geworden. Eine Verschwörung sei nichts anderes als das zielgerichtete, konspirative Wirken einer meist kleinen Gruppe von Akteuren zu einem illegalen oder illegitimen Zweck. „Solche Verschwörungen gehören aber zum Tagesgeschäft. Sie finden in der einen oder anderen Form ständig statt.“

Besonders lesenswert sind die Abschnitte über Deutschlands Eliten, Parteien, Lobbyisten und Manager. Sie kommen schlecht weg, was auch erklärt, warum der Autor kaum noch zu TV-Talks eingeladen wird. Angela Merkel hält er für einen Apparatschik und für ein „großes Unglück für Deutschland“. Die Kosten ihrer Fehlentscheidungen, so ist einem Kasten mit sechs Stichpunkten zu entnehmen, gehen in die Billionen. Das von ihr aufgebaute System nennt er „autokratisch“.

Beantwortet wird auch die Frage, wer die Zeche zahlt. Es ist der Mittelstand. Das reicht von der schleichenden Enteignung durch Niedrigzinsen (Kosten von 80 bis 120 Milliarden Euro per anno) über die geldpolitisch verursachte Explosion der Mieten und Immobilienpreise (40 bis 80 Milliarden per anno) bis zur Erosion der öffentlichen Güter (unschätzbar). Otte macht sich stark für den Mittelstand und beklagt die neue Realität einer Feudal- und Beutewirtschaft, in der der Markt mit seinem Ausgleich konkurrierender Interessen nur noch als Propagandaversion existiere. 

Politisch einordnen läßt sich Otte am ehesten als Sozialpatriot, aber auch als Ordoliberaler und Verfechter einer Philosophie, die den Deutschen zu Zeiten Ludwig Erhards das Wirtschaftswunder beschert hat. Ein pessimistisches Buch ist dies trotz allem nicht. Vielmehr ein kämpferisches und eines, das aufklärt, erklärt und Orientierung gibt.

Max Otte: Die Krise hält sich nicht an Regeln. 99 Antworten auf die wichtigsten Fragen nach dem Corona-Crash. FinanzBuch Verlag, München 2021, gebunden, 252 Seiten, 20 Euro