© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Der Rechtsfrieden ist in Gefahr
Der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel beklagt einen Justizapparat, der Kriminalität nicht mehr konsequent bestraft
Fabian Schmidt-Ahmad

Als Berliner Oberstaatsanwalt für Kapitalverbrechen, Schwerpunkt Clan-Kriminalität, kennt Ralph Knispel Seiten der Gesellschaft, die sonst gerne ausgeblendet werden. Nun hat er mit „Rechtsstaat am Ende“ ein Resümee gezogen. Es fällt nicht gut aus. „Die verschiedenen Clans haben sich im Lauf der zurückliegenden Jahrzehnte in weiten Teilen Deutschlands weitgehend unbehelligt ausbreiten und in ihren Strukturen verfestigen können.“ Ihnen gegenüber steht ein ausgelaugter und unterfinanzierter Justizapparat, der immer häufiger grundlegende Aufgaben der Rechtspflege versäumt.

„Niemand kann verstehen, daß Straftaten nicht zur Anklage gebracht werden, weil das Personal dafür fehlt“, empört sich Knispel. „All das wirkt sich nicht nur auf das Gerechtigkeitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger aus, es schwächt auch auf fundamentale Weise den Nimbus des Staates als Hüter von Recht und Gesetz.“ Was Knispel an haarsträubenden Beispielen in seinem Buch zusammenträgt, läßt freilich den Glauben an den Rechtsstaat nicht unbedingt erblühen. Wenn selbst schwerste Verbrechen ungesühnt bleiben, stellt sich für jeden von ganz allein die Frage nach dem Rechtsfrieden.

Wo Knispel, Jahrgang 1960, aus der Praxis heraus berichtet, ist das Buch ein Gewinn. Seine große Schwäche liegt jedoch in der politischen Ideologisierung. So warnt Knispel davor, daß sich die Bürger „zunehmend politisch randständigen Kreisen zuwenden“ und „ihre Sicherheit nicht länger bei den traditionellen Parteien gut aufgehoben“ sehen, „den ausführenden Organen unseres Rechtsstaates“. Nun, es ist das Prinzip des Parteienpluralismus, daß sich der Bürger jedem zuwenden kann, der seiner Meinung nach gemeinsame Interessen am besten vertritt.

Wie Knispel von diesem Grundgedanken der repräsentativen Demokratie dazu kommt, daß diese „Gruppierungen oder neuen Parteien den Rechtsstaat gefährden“, was „nicht zuletzt aus der deutschen Geschichte bestens bekannt“ sei, kann er einem ehemaligen Amtskollegen, dem leitenden Berliner Oberstaatsanwalt Roman Reusch, erklären, derzeit Abgeordneter der AfD im Bundestag. Knispel selbst baut freilich auf eine andere politische Kraft. Ernsthaft erhofft er sich eine Wende ausgerechnet von der Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock. 

Leider kann man Knispel trotz seines Praxisbezugs daher eine gewisse Naivität nicht absprechen. Sein Lösungsansatz erschöpft sich im klassischen sozialdemokratischen Dreisatz von mehr Geld, noch mehr Geld und mehr Personal. Eben das verspricht ihm Baerbock. „Sollten die Grünen – worauf derzeitige Wahlumfragen durchaus hinweisen – Koalitionspartner in der nächsten Bundesregierung sein, werden sich deren Mitglieder bestimmt der fordernden Worte ihrer Parteivorsitzenden erinnern.“ Glaubt Knispel wirklich, aus dieser politischen Richtung interessiert jemand der überhöhte Ausländeranteil unter den Straftätern, wie der Jurist ausführlich aufzählt? „Lag der Ausländeranteil in den Berliner Haftanstalten im Jahr 2011 noch bei 34 Prozent, erreichte er 50,7 Prozent mit Stand März 2019“, wobei die „hauptsächlichen Herkunftsstaaten der Libanon, Rumänien, Polen, Serbien und die Türkei waren“.

Oder die Warnung, moralische Befindlichkeit über objektives Recht zu stellen, was Knispel ausgerechnet an der „Fridays for Future“-Bewegung erläutert? „Der Verstoß gegen die Schulpflicht stellt eine Ordnungswidrigkeit dar, die zu verfolgen ist.“ So gibt das Buch zwar wertvolle Einblicke in einen zunehmend dysfunktionalen Rechtsstaat, doch Knispels Ratschläge wirken nicht überzeugend. Gewiß braucht der kaputtgesparte Justizapparat auch mehr Geld und Personal, doch sollte Knispel selbst wissen, welche Kräfte unsinnigerweise gebunden werden. Über fünfzig Prozent ausländische Straftäter heißt über fünfzig Prozent Straftäter, die hier nichts verloren haben und nicht „besondere Ausgestaltung der Haftbedingungen“ erfordern, wie Knispel meint. Alleine die Klagen abgelehnter Asylbewerber dürften genug Einsparpotential für den Rechtsfrieden besitzen. Das aber ist ein ideologisches, kein materielles Problem.

Ralph Knispel: Rechtsstaat am Ende. Ein Oberstaatsanwalt schlägt Alarm. Ullstein Verlag, Berlin 2021, gebunden, 240 Seiten, 22,99 Euro