© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Dem Islamismus in die Falle getappt
Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner über die Sünden des Westens nach den Terroranschlägen von 2001. Seine Antwort ist mehr Kosmopolitismus
MIchael Dienstbier

Der Westen hat verloren, Osama bin Laden auf ganzer Linie gesiegt. Diese knallige These setzt der Islamwissenschaftler und Übersetzer aus dem Arabischen Stefan Weidner gleich zu Beginn seines neuen Buches „Ground Zero: 9/11 und die Geburt der Gegenwart“. Dem Planer der Anschläge vom 11. September 2001 sei es gelungen, die Führungsmacht USA in eine Falle zu locken und einen identitären Kulturkampf zu befeuern.

Durch den „Krieg gegen den Terror“, die auf einer Lüge basierende Irak-Invasion 2003 und die Folter-Praktiken der CIA habe sich der Westen vor den Augen der Welt moralisch delegitimiert und es dem politischen Islam ermöglicht, die Rolle der antiimperialistischen Opposition einzunehmen, die seit dem Ende des Kalten Krieges brachlag. Am Ende der Lektüre steht ein unschlüssiger Leser. Weidner ist ein intimer Kenner der arabischen Kultur und Sprache, der jedoch unter dem Begriff „Biokosmopolitismus“ eine politische Agenda verfolgt, die den Gesamteindruck trübt.

Weidner ist kein Politologe, und genau das macht die Stärke des Buches aus. Er hat unter anderem in Damaskus studiert und sein Leben der arabisch-orientalischen Literatur gewidmet. Seine vor zwei Jahren erschienene Darstellung „1001 Buch: Die Literaturen des Orients“ wurde einhellig als großer Wurf bewertet. Das vorliegende Buch ist dreigeteilt – die Vorgeschichte von 9/11; die Auswirkungen des Anschlags auf die Welt; ein Epilog mit Weidners Zukunftsentwurf – und an der Lebens­praxis und den Befindlichkeiten der arabisch-orientalischen Welt orientiert. 

Schlaglichtartig beschreibt er zuerst das Gebaren der USA im Nahen Osten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wie zum Beispiel den CIA-Putsch gegen den iranischen Präsidenten Mohammad Mossadegh 1953. Des weiteren betont er den Aufstieg des politischen Islam als Folge der sowjetischen Invasion Afghanistans 1979. Hier profilierte sich der junge, aus reichem Hause stammende Saudi Osama bin Laden als Widerstandskämpfer gegen gottlose Eindringlinge und wurde so zu einem Che Guevara der islamischen Welt. 

Im zweiten Teil rechnet Weidner mit der unmittelbaren Reaktion des Westens ab, den Kriegen gegen Afghanistan und vor allem gegen den Irak. Alles weitere leitet sich für ihn aus diesen Sündenfällen ab: die Niederschlagung des sogenannten Arabischen Frühlings, der Aufstieg des IS, der brutale Stellvertreterkrieg in Syrien. Dies alles seien Folgen, so Weidner auf Carl Schmitt rekurrierend, eines totalitär auftretenden hegemonialen Liberalismus.

9/11 ist für ihn ein „absolutes Ereignis“, eine Stunde Null, ein Zeitpunkt, an dem die Welt falsch abgebogen ist. Hier offenbart Weidner ein teleologisches Weltbild, das den Ideologen in ihm zum Vorschein bringt. Die Anschläge vom 11. September hätten es neokonservativen Kräften erlaubt, ihre Narrative von Xenophobie und Islamfeindlichkeit durchzusetzen und das quasi gottgegebene Thema der Zukunft in den Hintergrund treten zu lassen: den Kampf gegen den Klimawandel. 

Hier folgt eine unterwürfige Hymne auf den Fast-Präsidenten und Klimaaktivisten Al Gore, die zum Fremdschämen ist. Deutschen Behörden unterstellt er noch schnell ein „kulturrassistisches“ Islambild und behauptet, Rechtspopulisten und der politische Islam würden im Grunde dieselbe politische Kulturkampf-Theologie vertreten.

Corona ist für ihn, man ahnt es bereits, ein neues „Ground-Zero-Ereignis“, das die Welt auf den Pfad der Tugend zurückführen könne. Hier bleibt Weidner bewußt vage und propagiert seine „biokosmopolitische“ Utopie, eine Art radikalen Kosmopolitismus, der verlangt, bei jedem Handeln die möglichen Konsequenzen auf die gesamte Welt mit zu berücksichtigen. Wie das konkret funktionieren soll, das gesteht Weidner zu, wisse allerdings auch er nicht. 

Das Prinzip der demokratischen Mehrheitsfindung scheint in seiner schönen neuen kosmopolitischen Welt jedoch nicht unentbehrlich zu sein. Am falschen Brexit-Ergebnis habe schließlich jeder sehen können, daß Demokratien „launisch und manipulierbar“ seien. Am Ende entsteht der Eindruck, daß Weidner in seiner Urteilsbildung das historische Ereignis 9/11 instrumentalisiert, um sein globalistisches Utopia zu bewerben. Das ist schade, weiß er in der Analyse gerade der Vorgeschichte doch durchaus zu überzeugen.

Stefan Weidner: Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart. Hanser Verlag, München 2021, gebunden, 256 Seiten, 23 Euro