© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Die Hand bleibt immer noch ausgestreckt
Zu sehr auf Putin fixiert: Der Rußlandexperte Alexander Rahr beklagt, daß Deutschland allzu fahrlässig das deutsch-russische Verhältnis aufs Spiel setzt
Filip Gaspar

Wer sich in der deutschen Medienlandschaft zu den aktuellen Geschehnissen in Rußland informieren möchte, der wird nur „zwei Kategorien russischer Gesprächs- oder Interviewpartner“ vorfinden: offizielle Regierungsvertreter oder ausgewiesene Kremlkritiker. So schreibt es Gabriele Krone-Schmalz in ihrem Vorwort zu „Anmaßung: Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt“. Autor des Buches ist Alexander Rahr, Osteuropa-Historiker, Publizist und einer von Deutschlands profiliertesten Rußlandexperten. Nach seinem letztjährigen Buch „Der 8. Mai: Geschichte eines Tages“ zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges kommt jetzt sein neues Werk, in dem er versucht, andere, wenn natürlich nicht „neutrale“ Sichtweisen zu Wort kommen zu lassen. 

Rahr ist durch seine Biographie und seinen beruflichen Werdegang prädestiniert für diese Aufgabe. In der Vergangenheit hat er die Bundesregierung in Rußlandfragen beraten und durch seine Arbeit stets versucht, das deutsch-russische Verhältnis zu verbessern. So sagt er deutlich in seiner Einführung, daß der deutsche Leser sich von diesem „Buch nicht angegriffen oder beleidigt fühlen“ soll. Sein Ziel sei es vielmehr, „die Gefahren des konfliktgeladenen Entfremdungsprozesses“ darzustellen. Und daß dieser Prozeß nicht erst seit der Causa Nawalny im vollen Gang ist, dürfte sowohl „Tagesschau“- als auch „Russia Today“-Zuschauern bewußt sein. 

Anhand von sieben ausgewählten Beispielen zeigt er auf, was die Menschen über Deutschland und natürlich auch über die Deutschen denken. Um ein möglichst breites Spektrum abbilden zu können, läßt er nicht bloß Personen aus Politik und Wirtschaft zu Wort kommen, sondern auch „Normalos“. 

Das Buch führt den Leser langsam an die Thematik heran und beginnt mit dem Besuch eines Coaching-Seminars. Eine Sozialpsychologin führt unter „richtigen“ Russen, damit sind Russen gemeint, die nicht aus Rußland emigriert sind, eine Umfrage zu deren Deutschlandbild durch. Die Antworten enthalten viel Bewunderung für Deutschland, auch sehr viel Verwunderung, sei es über die Politik oder das Sozialverhalten der Deutschen. 

Danach kommt eine Konfliktforscherin zu Wort, die einen kulturell-historischen Überblick über das deutsch-russische Verhältnis gibt. Sie zeigt auf, daß Rußland seine Hand immer noch offen nach Deutschland ausstreckt, trotz der transatlantischen Orientierung deutscher Eliten. Doch es schwingt die Warnung mit, daß die Geduld russischer Entscheidungsträger endlich sei und sie notfalls mit den „ungeliebten Amerikanern über ihre Beziehungen zum Westen“ verhandeln müßten.

Rahr scheut vor Emotionen und deutlichen Worten zurück, was man gut im darauffolgenden Kapitel „Volodja, der wehrhafte Diplomat“ sehen kann. Auf der Expertenrunde des Deutsch- Russischen Forums im Spätsommer 2020 trauert Volodja nicht nur den coronabedingt ausgefallenen Empfängen nach, sondern auch den anscheinend nicht mehr vorhandenen pragmatischen Ostpolitikern wie Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher oder Gerhard Schröder. 

Man bekommt Einblicke in die diplomatische Gefühlswelt und welche Enttäuschung und Wut auf russischer Seite herrscht, weil eine Festigung der deutsch-russischen Beziehung auf Augenhöhe seit dem Niedergang der Sowjetunion vertan wurde. Teilweise erscheinen Volodjas Schuldzuweisungen zu einseitig, bieten aber trotzdem eine willkommene Abwechslung, und man darf nicht vergessen, daß Ziel dieses Buches ist, einen Einblick in die russische Seele zu geben. 

In den restlichen Kapiteln kommt ein rußlanddeutscher Patriot, der Vorsitzende des Verbandes der Russischen Wirtschaft zu Wort, bevor das Buch mit dem „Internationalen Dialog der Zivilisationen“ endet, der 2020 kurz vor Corona auf Rhodos stattfand. Auf einem Panel wohnt man einer Podiumsdiskussion zwischen einem potentiellen Merkel-Nachfolger und einem möglichen Putin-Nachfolger bei. Auch wenn das letzte Kapitel teils in Prosaform verfaßt ist und einen Hauch von Spionagethriller trägt, bildet es dennoch einen guten Abschluß von Rahrs Buch und ist ein Muß für jeden Rußlandinteressierten. 

Alexander Rahr: Anmaßung. Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2021, broschiert, 192 Seiten, 16 Euro