© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

Lesereinspruch

Kampf um die Geschichte

Zu: „Der Untertan boxt sich durch“ von Wolfgang Müller, JF 13/21

Heinrich Manns „Untertan“ ist ein satirisches Kunstwerk, das erst einmal als solches beurteilt werden sollte. Wenn der Roman freilich, wie an nordrhein-westfälischen Gymnasien geschehen, ganz naiv als Quelle für die Zustände im Kaiserreich benutzt wird, dann ist das fragwürdig. Denn es handelt sich nicht nur um eine satirische Überspitzung einer Realität, sondern um das sehr dunkelgraue Gegenbild zum idealisierten Frankreich von 1789. Dort schwärmt das Alter ego des Autors von den menschheitlichen Idealen dieser Revolution, die er als historische Wirklichkeit nimmt.

Daß die Französische Revolution die Geburtsstunde des modernen französischen Chauvinismus war, daß das erste moderne totalitäre Regime mit Massenmorden errichtet wurde, daß im Anschluß daran Frankreichs Nachbarn mit Eroberungskriegen überzogen wurden, das alles weiß Heinrich Mann nicht. Er war ein unpolitischer, frankophiler Schwärmer und trauerte einer idealen bürgerlichen Zeit nach, die es aber so nie gegeben hat. Das Kunstwerk scheint mir trotzdem gelungen zu sein, jedenfalls habe ich mich gut unterhalten gefühlt.

Wilhelm Hacke, Witten