© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

„Ein Buch ohne Mund-Nasen-Schutz“
Ohne die oft befehdeten normalen Bürger läuft nichts im Staat – zumal in Krisenzeiten. Nun feiert die Schriftstellerin Cora Stephan in ihrem neuen Band das „Lob des Normalen“
Moritz Schwarz

Frau Dr. Stephan, wann wurde Ihnen klar: Ich muß für das Normale Partei ergreifen? 

Cora Stephan: Ich ärgere mich seit Beginn der Panikpandemie über die Behauptung, es herrsche nun ein „neues Normal“, an das wir alle uns zu gewöhnen hätten. Dabei ist es doch genau umgekehrt!

Inwiefern?

Stephan: In einer Krise meldet sich verstärkt das „alte Normal“, und das ist äußerst zäh und überlebensfähig. Normal ist das, was Menschen in einer Bedrohungssituation mehr oder weniger instinktiv machen – nämlich sich zusammentun und die Zugbrücke hochziehen. Aber das hören diejenigen nicht gerne, die in jeder Krise die Chance erblicken, ihre Agenda der Weltveränderung und Menschenverbesserung durchzusetzen. Und die sind prompt ganz und gar entsetzt, wenn sich plötzlich etwas so „Rückständiges“ als krisenfest bewährt wie Institutionen namens Ehe und Familie. 

Ist es also die Etablierung von Normalität, die erst die Herausbildung von Zivilisation und Fortschritt ermöglicht hat?

Stephan: Menschen haben sich Regeln gegeben, um es miteinander aushalten zu können. Gewohnheit ist etwas, das man nicht erklären muß, auf das man sich verlassen kann. Das mag eher glanzlos sein, aber es ist normal. Konventionen sind eine Lingua franca, die Verständigung ermöglicht. Sehen wir es spielerisch: Ein Spiel ohne Regeln gibt es nicht.

Auch die AfD will das Thema aufgreifen und plant, ihren Bundestagswahlkampf voraussichtlich unter dem Motto Normalität zu führen. Das unterstellt allerdings, alle anderen Parteien stehen nicht mehr für das Normale? 

Stephan: Die AfD wäre gut beraten, genau das zu tun. In der Tat kommen bei den anderen Parteien die „Normalen“ weitgehend zu kurz – Menschen, die, um mich selbst zu zitieren, „hundsnormale Spießer“ sind: christlich geprägt, verheiratet, zwei Kinder, Eigenheim, wenn sie sich das noch leisten können, geregeltes Einkommen – hoffen wir zumindest mal –, verläßliche Steuerzahler, obwohl sie heute bereits mit einem mäßigen Einkommen als Spitzenverdiener besteuert werden. Sie sind oft tolerant bis zur Selbstaufgabe – und haben es dennoch langsam satt, stets zum Auslaufmodell erklärt zu werden, weil andere bunter und diverser tun. Das Normale ist nicht schlagzeilenträchtig. Und nur in Krisenzeiten sieht man, daß es ohne dessen Vertreter nicht geht: ohne Handwerker und Bauern, Verkäufer und Postboten, Reinigungskräfte und Lkw-Fahrer und so viele andere – eine wirklichkeitssatte Liste wäre hier zu lang. Darunter sind Leute wie jene, die für den Brexit oder für Trump gestimmt und die der AfD zum Aufstieg verholfen haben. Sie haben CDU gewählt, bevor sie unter Merkel grün wurde, oder die alte SPD, bevor deren Spitzenleute der Antifa und der Queer-Bewegung den Vorzug gegeben haben vor so einem vernünftigen „alten weißen Mann“ wie Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der es wagt, der linken Identitätspolitik öffentlich zu widersprechen. 

Man kann sich auf verschiedene Weise dem Thema annehmen, etwa in Form eines Romans oder eines nüchternen Sachbuchs etc. Warum haben Sie sich für einen die Zustände spiegelnden, deskriptiven Groß-Essay entschieden, der Ihr Buch „Lob des Normalen“ im Grunde ist?

Stephan: Ich schätze den Essay als offene Form, die Spekulationen und Abschweifungen zuläßt, ich will anregen, nicht meinerseits Verhaltensempfehlungen à la AHA-Regeln geben. Das Buch kommt sozusagen ohne Mund-Nasen-Schutz daher.

Früher war das, was gelebt wurde und das, was als soziale Norm erwünscht war – also das reale und das normative „Normal“ –, weitgehend deckungsgleich. Leben wir nun erstmals in einer Zeit, in der das, was normal ist – also das Leben der Mehrheit –, nicht mehr mit dem übereinstimmt, was aus politischer Sicht auch normal sein soll?

Stephan: Normal ist zum einen die Biologie des Menschen, und darüber haben wir nicht zu entscheiden. Die überwiegende Mehrzahl der Menschen ist heterosexuell. Und dieser Umstand ist nicht, wie immer wieder behauptet wird, „heteronormativ“ – also eine bloße Norm, eine Übereinkunft –, sondern normal. Biologie ist keine Kränkung. Menschen können ihr Geschlecht nicht durch bloßen Entschluß wechseln. Im übrigen können sich auch Homosexuelle nicht einfach dafür entscheiden, es nicht mehr zu sein. Normal ist zum anderen, was eine Mehrheit als Gewohnheit betrachtet – das kann natürlich extrem einengend sein, sorgt aber für die nötige Stabilität des Gemeinwesens. Man kann „die Regeln des Zusammenlebens“ nicht „täglich neu aushandeln“, wie das die ehemalige stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Aydan Özoğuz, gefordert hat. Das mündete in der Geschichte meist in Mord und Totschlag, weil es die Stärkeren begünstigt. 

Die Sottisen gegen die Normalität sind Legion, zum Beispiel der Autor Horst Bulla: „Die menschliche und gesellschaftliche Normalität ist so absurd, daß sie eigentlich verboten gehört.“ Der Maler Vincent van Gogh: „Normalität ist eine gepflasterte Straße: man kann gut darauf gehen, doch es wachsen keine Blumen auf ihr.“ Oder der Dramatiker George Bernard Shaw: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute, seht euch nur an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“ Woher kommt das?

Stephan: Was wäre Normalität ohne ihr Gegengewicht, die Ausnahme? Ist doch klar, daß gerade Künstler, Dichter und „Denker“ die bunten Blumen des Bösen oder auch nur Unartigen hochhalten. Normalität ist nun mal beides: eine Fessel – und eine Entlastung für alle, die keine Zeit für entfesselte Kreativität erübrigen können, weil sie zu tun haben. Doch auch die legen meistens Wert darauf, daß es die bunten Vögel mit ihren Schnapsideen gibt. Andererseits: es nervt auch, dieser dauernde Versuch von „Kulturschaffenden“ im Theater oder der bildenden Kunst, mit allem Möglichen zu „brechen“, das sie als Gewohnheit und also schädlich erkennen. 

Wer entscheidet eigentlich, was normal sein soll und mit welchem – demokratisch legitimierten – Recht? 

Stephan: Warum neuerdings genau das normal sein soll, was es nicht ist? Gut möglich, daß dahinter Machtansprüche von Minderheitenlobbys stehen, wobei ich glaube, daß keineswegs jeder Einzelne nur seiner Merkmale wegen dem jeweiligen Kollektiv subsumiert werden möchte – und bei so vielen schrillen Tönen seine Interessen durchaus nicht vertreten sieht. Verfügen können diese „Aktivisten“ gar nichts, aber der „Terror der kleinen Minderheit“, wie es der Essayist Nassim Nicholas Taleb nennt, kann sehr wirkungsvoll sein. Demokratie basiert allerdings auf Mehrheitsentscheidungen. Nun sollen allerhand Kollektive, definiert etwa nach Geschlecht, Migrationshintergrund oder Hautfarbe, begünstigt werden – nach dem Prinzip der Parité. Das liefe auf eine Art Ständestaat hinaus. Machen sich das deren Protagonisten eigentlich klar? 

Was steckt eigentlich hinter dem Haß auf das Normale? Ist es vielleicht ein vom Sozialen ins Kulturelle verschobener Klassenkampf, eine „stille“ Revolution? Oder ist es einfach nur eine Mode unserer Zeit? Und warum gibt es kaum Gegenwehr seitens der Normalen, die doch die große Mehrheit stellen? 

Stephan: Man hat den Eindruck, Kollektive mit bestimmten Merkmalen wie Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung etc. sind für einige Linke das neue revolutionäre Subjekt – Motto: auf jeden Fall Revolution, auch ohne Proletariat! Still sind die allerdings nicht gerade, sondern eher schrill. Warum sich eine Mehrheit das gefallen läßt? Wer weiß, wie lange noch. Doch vielleicht nehmen sie diesen ganzen Zirkus einfach nicht ernst. Eine überwältigende Mehrheit der Frauen findet „Gendern“ albern und unnötig. Normale machen nicht jeden Quatsch mit. 

Welche Rolle spielt dabei die – doch einst von der Linken so verachtete – Werbe-, Konsum- und Kulturindustrie?

Stephan: Eine große. Und eine fatale. Es macht überdrüssig und dient eben gerade nicht der „Toleranz“, wenn der mehrheitlich weißen Gesellschaft hierzulande „systemischer Rassismus“ vorgeworfen und ihr als Gegenmittel permanent Multikulti vorgeführt wird. Boris Palmer hat 2019 völlig zu Recht gefragt, welche Gesellschaft denn in der Werbekampagne der Deutschen Bahn abgebildet sei, die vor allem Prominente mit nichtweißer Hautfarbe zeigt. „Repräsentativ“ ist das bei einem Anteil von mutmaßlich einer Million dunkelhäutiger Deutscher nicht. Dieses „Nudging“, wie man diese Methode der sozialen Manipulation nennt, macht nur widerspenstig, sonst gar nichts – womit man dann natürlich scheinbar bewiesen hat, was zuvor unterstellt wurde.

Also nochmal, welche kulturellen Wurzeln hat die Ablehnung des Normalen? 

Stephan: In früheren Zeiten ist die „normale“ Gesellschaft mit allem Abweichenden extrem gewalttätig umgegangen. Wenn es auf das Überleben des Stammes oder der Familie ankam, hat man ausgesondert, was anders war. Fortpflanzen sollten sich nur die, die man für normal hielt. Im übrigen gehörte es zu den Strategien des Überlebens, Andersartiges, Fremdes zu erkennen und zu meiden. Wir haben mittlerweile eine lange Geschichte der Kämpfe gegen alle Arten von – oft tödlicher – Ausgrenzung, man denke an die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Das steht in all den Ländern übrigens noch aus, in denen Homosexualität mit der Todesstrafe geahndet wird. Im Westen sind wir weiter. Dabei hat sich der Affekt oft umgekehrt: Nicht jede Kränkung ist gleich ein gesellschaftliches Problem – „strukturelle Gewalt“ oder „systemischer Rassismus“ –, das besondere Beachtung verdiente.

Ist es eigentlich nicht die Aufgabe der gesellschaftlichen Institutionen – wie bürgerliche Parteien, Kirchen, Gewerkschaften etc. –, sich für das Normale einzusetzen? Warum verteidigen diese es dann nicht mehr? 

Stephan: Gute Frage. Sie fürchten wohl, nicht „modern“ zu sein. Doch frage ich mich: Was ist am bloßen Zeitgeist eigentlich modern?

Ihr Buch liest sich aus politisch korrekter Sicht wie eine „rechte“ Agenda – warum ist das so? Vor allem, was sagt das aus?

Stephan: Ein Essay ist keine Agenda. Zum einen. Und die Frage ist doch eher, warum mittlerweile schon „rechts“ ist, was lediglich die Wirklichkeit zur Kenntnis nimmt? Menschen sind kein leeres Blatt Papier, das man beschreiben kann, wie es einem gerade gefällt. Das müssen auch die Volkserzieher begreifen. Doch manchmal hat man das Gefühl, dort werden noch immer die alten linken Träume vom „neuen Menschen“ geträumt. Ein Traum, der unter Mao und Stalin Millionen das Leben gekostet hat, die zum „neuen Menschen“ nicht taugten. In Aldous Huxleys berühmten Roman „Schöne neue Welt“ sind die „Normalen“ mit Senfgas und Anthrax ausgerottet worden, bevor die Welt dann so richtig schön wurde.                                            






Dr. Cora Stephan, verfaßte über zwei Dutzend Sachbücher und Romane (einige auch unter dem Pseudonym Anne Chaplet), darunter „Ab heute heiße ich Margo“ (2016) und „Margos Töchter“ (2020) sowie „Angela Merkel. Ein Irrtum“ (2011) und  „Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte“ (1994). Zudem schrieb sie Hör- und Drehbücher, Kolumnen, Kritiken, Artikel und Essays für verschiedene Rundfunkanstalten wie den Deutschlandfunk, die Welt, Zeit, Neue Zürcher Zeitung oder den Spiegel. Geboren 1951 in Strang bei Bad Rothenfelde, wuchs sie im nahen Osnabrück auf, studierte Politik, Volkswirtschaft und Geschichte, lehrte an der Universität Frankfurt, war Lektorin und Übersetzerin, etwa für Suhrkamp, Redakteurin beim Hessischen Rundfunk und Spiegel-Korrespondentin in Bonn. Über ihren Band „Lob des Normalen. Vom Glück des Bewährten“ schreibt Ralf Schuler in der Bild: „In ihrem neuen Buch feiert die Bestseller-Autorin ‘das Normale‘ als Fundament des Lebens ... Vermutlich hat sie recht.“

Foto: Bestseller-Autorin Stephan: „Die normalen Menschen haben es langsam satt, stets zum Auslaufmodell erklärt zu werden, weil andere bunter und diverser tun ... Unsere Demokratie basiert auf Mehrheitsentscheidung. Nun aber sollen Kollektive ... begünstigt werden. Das liefe auf eine Art Ständestaat hinaus. Machen sich das deren Protagonisten eigentlich klar?“  

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