© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

Der Druck ist enorm hoch
Prozeßauftakt im Fall George Floyd: Der angeklagte Polizeibeamte Derek Chauvin gilt für viele bereits vor dem Urteilsspruch als schuldig
Zita Tipold

Dem Rechtsgrundsatz „In dubio pro reo“ folgend, gilt jeder Angeklagte so lange als unschuldig, bis ein Gericht seine Schuld zweifelsfrei festgestellt hat. Im Falle des früheren US-Polizisten Derek Chauvin scheinen viele aber schon ihr Urteil gefällt zu haben.

Der mittlerweile vom Dienst suspendierte Beamte hatte bei der Festnahme des Afroamerikaners George Floyd im vergangenen Mai über acht Minuten lang auf dessen Hals gekniet, obwohl der Schwarze mehrfach beklagte, keine Luft zu bekommen. Floyd starb. 

Die Szenen, die eine Passantin mit ihrem Handy aufnahm, gingen durchs Netz und traten eine Welle an Ausschreitungen los. „Black Lives Matter“-Demonstranten wüteten in mehreren amerikanischen Städten, plünderten Geschäfte, steckten Fahrzeuge in Brand.

Vergangene Woche war der Auftakt des voraussichtlich vierwöchigen Strafprozesses im Gerichtsgebäude von Minneapolis im Bundesstaat Minnesota. Der Druck ist hoch, wie sich bereits vor dem Verhandlungsbeginn abzeichnete. 

Zunächst war der Jurist Mike Freeman als erster Staatsanwalt vorgesehen gewesen, doch nachdem sich wiederholt Tausende „Black Lives Matter“-Demonstranten vor seinem Haus versammelt und ihn beschuldigt hatten, auf seiten der Polizei zu stehen, gab Freeman den Fall weiter und zog aus Sicherheitsbedenken um. Die Staatsanwaltschaft wirft Chauvin drei Mordtatbestände vor, die sich in Vorsatz und Schwere der Schuld voneinander unterscheiden. 

Chauvin könnte Haftstrafe von 75 Jahren erhalten

Der Vorwurf des Mordes zweiten Grades ist mit dem deutschen Straftatbestand Totschlag vergleichbar, einer Tötung ohne Vorsatz. Der zweite Anklagepunkt, Mord dritten Grades, geht zwar nicht von einer Tötungsabsicht aus, dafür aber von einem „verkommenen Geist ohne Rücksicht auf das menschliche Leben“. Zuletzt wird ihm eine fahrlässige Tötung vorgeworfen. Chauvin könnte in allen drei Anklagepunkten schuldig gesprochen und in der Summe zu einer Haftstrafe von 75 Jahren verurteilt werden. 

Viele Medien sparen häufig die kriminelle Vergangenheit des Afroamerikaners aus, der selbst mehrmals in die Rolle des Täters schlüpfte. So überfiel er 2007 eine schwangere Frau und drohte, ihr ungeborenes Kind zu töten. 

Auch am Tag seines Todes geriet Floyd mit dem Gesetz in Konflikt. Eine Ladenbesitzerin rief die Polizei, nachdem der Afroamerikaner angeblich mit einem gefälschten Geldschein bezahlt hatte. Die Aufnahmen der Körperkameras der anwesenden Beamten zeigen, daß er sich seiner Verhaftung zunächst widersetzte. Zudem befanden sich laut toxikologischem Gutachten mehrere gefährliche Substanzen in seinem Blutkreislauf, die schon bei geringer Konzentration schwere Auswirkungen auf den Körper haben können. 

Für den Vertreter der Anklage, Jerry Blackwell, steht Chauvins Schuld selbstverständlich fest. „Sie können Ihren Augen trauen. Es war Mord“, versicherte er den Geschworenen, die später über die Vorwürfe entscheiden werden. Die zwölf Jury-Mitglieder wurden vorab durchleuchtet. Sie mußten etwa angeben, ob sie Anhänger der „Black Lives Matter“-Bewegung sind. 

Belastend auf das Urteil könnte sich die Aussage des Polizeichefs von Minneapolis, Medaria Arradondo, auswirken. Ihm zufolge verletzte Chauvin damals die Regeln der Polizeibehörde sowie deren Ethik.