© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

Erkenne die Lage!
Parolen: Das „Manifest der offenen Gesellschaft“ wird die Verhältnisse nicht aus den Angeln heben
Thorsten Hinz

Der neueste Aufruf zur Rettung der Demokratie vor den Zeugen Coronas trägt den Titel „Manifest der offenen Gesellschaft“. Der Text, der in der Welt und in der Wochenzeitung Der Freitag veröffentlicht wurde, umfaßt nur wenige Sätze (JF 14/21). Die fünf Erstunterzeichner sind Akademiker. Sie sehen die Bundesrepublik in „einer der schwersten Krisen in der Geschichte“ und „wollen weg von der erregten Zuspitzung in den Medien, weg von Konformitätsdruck und einseitiger Lagerbildung in der Gesellschaft und weg von einem unguten Schwarz-Weiß-Denken“. Die Polarisierung schade nicht nur „dem sozialen Frieden und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch der Qualität der Argumente“. Der Text endet mit dem Appell: „Für die offene und freie Gesellschaft.“

Das Manifest wird die Verhältnisse nicht aus den Angeln heben. Es scheitert bereits an der Grundvoraussetzung, die Gottfried Benn so formulierte: „Erkenne die Lage! Rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen.“ Der Aufruf ist voller Parolen, zum Beispiel: „Vor allem dürfen wir nicht den Verschwörungsfanatikern, Extremisten und Demokratie-feinden das Feld überlassen, wenn es um die kritische Bestandsaufnahme und das konstruktive Hinterfragen der Corona-Maßnahmen geht.“

Köstlich ist hier das Adverb „vor allem“. Noch bedrohlicher als die Abschaffung der Grundrechte ist demnach die Aussicht, daß „Extremisten“ – der medial konditionierte Leser denkt sich reflexhaft „rechts“ hinzu – als deren Verteidiger auftreten könnten. Andererseits gestehen die Autoren den übelgesinnten Rechten durchaus die Fähigkeit zu konstruktiver Kritik und zum Auftritt als deren letzte Repräsentanten zu – was für Zivilcourage, ergo für das komplette Gegenteil von Verschwörungsfanatismus, Demokratiefeindlichkeit und Extremismus spricht.

Das Durcheinander in der Gedankenführung ist leicht erklärt. Den bösen Pappkamerad haben die Manifestierer zum präventiven Selbstschutz aufgerichtet. Indem sie mit dem Finger auf ihn zeigen, versuchen sie sich vor den erregten Zuspitzern, den Konformitätsdrückern, den einseitigen Lagerbildnern und unguten Schwarz-Weiß-Denkern zu salvieren. Es ist eine flehentliche Bitte an die Mächtigen, sich auf den wahren, den gemeinsamen Feind zu besinnen, gegen den man im „Konsens der Demokraten“ zusammenstehen müsse. Die implizite Versicherung, daß man im Grunde dasselbe wolle, soll die Wucht des erwartbaren Gegenstoßes ablenken oder wenigstens abmildern. Mit diesem Bekunden der eigenen Schwäche bestärken die ängstlichen Protestanten jene Kräfte und Umstände, gegen die sie doch aufbegehren wollten.

„Wir wollen die Diskussion wieder versachlichen, um im Rahmen des demokratischen Spektrums den Raum für einen freien Dialog zu schaffen und offenes Denken zu ermöglichen.“ Wann hätte es in den letzten 30 Jahren eine sachliche Diskussion gegeben, eine Diskussion ohne hysterische Moralisierung, die man „wieder“ aufnehmen könnte? Die Versimpelung des politischen Diskurses bis zur Primitivität ist nicht erst mit Corona in die Welt gekommen.

Am Anfang stand der irrationale „Kampf gegen Rechts“, an den der „Kampf gegen die Klima-Erwärmung“ anknüpfte, der sich im „Kampf gegen die Pandemie“ zu einer Dynamik gesteigert hat, die alles niederwalzt. „Nazis“, „Antisemiten“, „Islamophobe“, „Verschwörungstheoretiker“, „Rechtsextremisten“, „Klima-“ und „Corona-Leugner“ und „Covidioten“ sind heute Synonyme, in denen sich das politische Vokabular weitgehend erschöpft. Ein verrückt gewordener Geist hat sich der Macht bemächtigt und politisch materialisiert.

Die „offene Gesellschaft“, auf die das Manifest sich bezieht, hat in jahrzehntelanger geduldiger Kleinarbeit jene Lage hervorgebracht, gegen die der Protest sich richtet. Das politische Leben, soweit man es als ein öffentliches versteht, ist erstorben, das Parlament als Debatten- und Entscheidungsforum unauffindbar, irgendwelche Möglichkeiten der Mit- und Einwirkung gibt es für den Demos nicht. Durch mediale Dauerbeschallung paralysiert, ist er zu einer realistischen Abwägung der eigenen Interessenlage und zu einer vernünftigen Wahlentscheidung ohnehin nicht mehr in der Lage. Und egal, was er auf dem Wahlzettel ankreuzt, am Ende kommen immer Merkel und ihre weiblichen und männlichen Allparteienklone heraus. Die einzig mögliche Form, sich als einfacher Bürger öffentlich Gehör zu verschaffen: die Demonstration auf der Straße, wird mit Wasserwerfern und medialen Schmutzkübeln bedacht.

Corona hat den autoritären Charakter nicht erschaffen, aber er tritt nun bekenntnishaft hervor. Die Polizei, die vor Clan-Versammlungen und organisierter Kriminalität zurückweicht, läßt ihren Frust an Spaziergängern aus, die auf einer Bank am Rhein- oder Elbufer die Frühlingssonne genießen wollen. Auch der innerdeutsche Ost-West-Graben wird vertieft. Vor drei Wochen wurden Polizisten aus Nordrhein-Westfalen nach Dresden geschafft, um eine Demonstration gegen die Pandemie-Restriktionen niederzuhalten. Ein Augenzeuge schilderte auf Politically Incorrect ihr Konquistadoren-Gehabe: „Offensichtlich hatten die Einsatzkräfte Gefallen daran, die Zivilbevölkerung inklusive Kinder, Versehrte und sehr alte Menschen zu drangsalieren. Darauf angesprochen, antwortete ein Beamter: ‘Das ist der geilste Job, den ich je hatte!’“

Verbote, Kontrollen und Repressionen beschränken sich nicht auf das politische, gesellschaftliche und soziale Leben. Sie betreffen unmittelbar Körper und Seele, die vegetativen Funktionen, die Atmung, den Bewegungsapparat jedes Einzelnen. Der Entzug von Reizen und sozialen Kontakten wirkt wie eine physische und psychische Mißhandlung. Die offerierte Erlösung durch permanente Tests und wiederholte Impfungen mit Präparaten, die im Eilverfahren hergestellt und zugelassen wurden, macht den Ausnahmezustand im Gewand der Fürsorge dauerhaft, wobei die Kriterien disponibel und – weil auf  Arkanwissen vorgeblicher Experten beruhend – nicht diskutierbar, letztlich willkürlich sind. 

Den staatlichen Zugriff auf den Individual-Körper nannte Michel Foucault „anatomische Macht“, die Zurichtung des „Gattungskörpers“ der Bevölkerung „Biomacht“. Die praktizierte Biopolitik schreitet über Links-Rechts-Unterscheidungen gleichgültig hinweg. In seinen 1978/79 am Collège de France gehaltenen Vorlesungen konnte Foucault noch festhalten, die Formung des „Homo oeconomicus“ durch den modernen Kapitalismus „impliziert keine anthropologische Assimilierung jeden beliebigen Verhaltens an ein ökonomisches Verhalten“. 

Jetzt soll die Assimilierung im Windschatten von Corona umgesetzt werden. Das Projekt, mittels Gender-Politik das natürliche Geschlecht abzuschaffen, treibt das totalitäre Strategem, gewachsene Strukturen zu zerstören, in Körper und Psyche, in das „nackte Leben“ hinein. Das steigert die Konfusion der Individuen, macht sie effektiver beherrschbar und bereit, sich in die „neue Normalität“ einzufügen, in der sich verwirklicht, was Giorgio Agamben mit dem Topos vom „Lager als Nomos der Moderne“ bezeichnete.

Ob die „offene Gesellschaft“, die soviel zerstörerische Offenheit freigesetzt hat, diese jemals wieder einfangen kann, ist eine sperrangelweit offene Frage.