© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

„Es ist das beharrlichste Volk der Erde“
Geistesgeschichtliche Tiefenbohrung: Die Germanistin Karin Schutjer untersucht Goethes Haltung zum Judentum
Wolfgang Müller

Den 2. Oktober 1824 hatte sich der schriftstellernde Jurastudent Heinrich Heine etwas anders vorgestellt. Nachdem er am Tag zuvor in einem verehrungsvollen Schreiben um die Erlaubnis gebeten hatte, Goethes Hand küssen zu dürfen, war er vom Dichterfürsten im Haus am Weimarer Frauenplan empfangen worden. Doch dessen Bewunderer begann die Unterhaltung schnell zu langweilen, so daß ihn der Hafer stach, als Goethe fragte, womit er sich gerade literarisch befasse: „Mit einem Faust.“ Auf diesen Affront erfolgte prompt die Gegenfrage, ob er sonst keine Geschäfte in Weimar habe, die der 27jährige Heine, dessen poetische Produktion über kümmerliche Anfänge noch nicht hinausgekommen war, korrekt als Abschiedswink verstand.

Der Wiener Literaturhistoriker Franz Koch, ein Nationalsozialist, 1935 nach Berlin berufen, eröffnet mit dieser Anekdote seine Studie über „Goethe und die Juden“ (1937). Die entgleiste Konversation des Olympiers mit seinem provozierenden Gast, der im Begriff war, sich mit der Taufe das „Entréebillet zur europäischen Kultur“ zu verschaffen, deutet Koch als symbolischen Vorgang: Goethe sei hier das ihm unangenehme assimilationsbereite Judentum in Person begegnet.

Modischer Sog zum Moralisieren

Kochs Versuch, den deutschen Nationaldichter zeitgemäß als „Antisemiten“ zu reklamieren, ist für die an der University of Oklahoma lehrende Germanistin Karin Schutjer lediglich der Normalfall in der fast 200jährigen Rezeptionsgeschichte. Denn stets paßte sich das Goethebild politischen Erfordernissen an. Auch nach 1945, als die Germanistik des Bonner Teilstaats auf Goethe den philosemitischen „Kosmopoliten und paradigmatisch ‘guten Deutschen’“ umschaltete und Weichen für eine Deutungstradition stellte, die mittlerweile, ideologischen Präferenzen der Berliner Republik entsprechend, im „grünen Goethe“ (Jost Hermand, 2016) münde, dem Pionier des „Umweltschutzes und des Multikulturalismus“.

Insbesondere Goethes Stellung zum Judentum, der sich Schutjers in ihrer geistesgeschichtlichen Tiefenbohrung widmet, lasse sich nicht auf das simple Feuilletonschema Philosemit oder Antisemit reduzieren, wenn man nicht Gefahr laufen wolle, ihm anachronistische „rassistische Vorurteile“ zu unterschieben. Zumal eifrige „Stellenjäger“ mühelos mit einer reichen Ausbeute philo- wie antisemitischer Zitate aufwarten können. Schutjer verweist dafür auf das ulkige Beispiel eines jüdischen US-Professors, der 1934 in einer Arbeit über „Goethe and the Jews“ den Dichter „gegen die Nazis ins Feld führte“, indem er dessen abfällige und positive Äußerungen über Juden katalogisierte –  um unterm Strich zu urteilen, Goethes humanistische Ideale überwögen seine verzeihlichen Vorurteile. Daher tauge er kulturpolitisch zum „mächtigen Verbündeten im Kampf gegen den Haß und die Unmenschlichkeit des Hitler-Regimes“.

Von solchen Holzschnitten, die sich heute noch wieder zunehmender Beliebtheit erfreuen, ist Schutjers nuancierte Behandlung der „komplexen und zwiespältigen Beziehungen Goethes zum Judentum“ weit entfernt. Nicht zuletzt deshalb, weil sie streng trennt zwischen Goethes Verhältnis zum „bibelschöpferischen Volk der Juden“ und zum zeitgenössischen Judentum, zum alten Israel und zum Judentum in der Diaspora.

Letzteres kommt im dichterischen Œuvre zwar kaum vor, aber um so zahlreichere kritische Äußerungen finden sich in Briefen und gut dokumentierten Gesprächen. Insoweit vermag auch die Verfasserin sich dem modischen Sog zum Moralisieren nicht zu entziehen, wenn sie sich über Goethes schon von Franz Koch akzentuierte rigorose Ablehnung jüdischer Emanzipationsforderungen empört. Trotzdem verschafft ihr dieser gegen das neuzeitliche, seine religiösen Wurzeln kappende, wirtschaftlich aufsteigende Judentum zielende „Antisemitismus“ keinen adäquaten Zugang zur vielschichtigen Materie, da schon der ahistorische Begriff allzu schnell „das erdrückende Gespenst des Holocaust heraufbeschwört“. 

Schutjer spricht daher lieber von Goethes „Antijudaismus“, mit dem der nach eigener Einschätzung „dezidierte Nichtchrist“, Kirchen-Verächter und exzellente Bibelkenner aufgewachsen ist, der das Buch der Bücher wie einen „Weltspiegel“ zu handhaben wußte. 

Wobei die im gewaltigen Lebenswerk omnipräsenten Bezugnahmen auf die „hebräische Bibel“ von Schutjer als Schlüssel zu Goethes Sicht auf die Moderne benutzt werden. In der zuletzt in Faust II, dem Drama mit den sinnfälligsten Analogien zwischen dem Helden und Moses, wiederkehrenden Konstellation, die die patriarchalische, feudalaristokratische Somewhere-Welt der Genesis mit der wurzellosen, kollektivistisch-uniformen Anywhere-Welt des von der jüdischen Auswanderung aus Ägypten erzählenden Buches Exodus kontrastiert, kommentiere Goethe das 1789 anbrechende kapitalistische Massenzeitalter. Darin, so laute Goethes in Literatur übersetzte Zeitdiagnose, triumphiere der Typus des ethnisch nicht fixierbaren „Exodus“-Juden über den bodenständigen „Genesis-Juden“. Dem aber spendet Goethe in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ das höchste, für ein Volk denkbare Lob: Das israelitische Volk habe nie viel getaugt und es besitze die meisten Fehler anderer Völker. „Aber an Selbständigkeit, Festigkeit, Tapferkeit und, wenn alles das nicht mehr gilt, an Zäheit sucht es seinesgleichen. Es ist das beharrlichste Volk der Erde …“  

Karin Schutjer: Goethe und das Judentum. Das schwierige Erbe der modernen Literatur, Wallstein Verlag, Göttingen 2020, gebunden. 288 Seiten, Abb., 39,90 Euro