© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

Unter der Maske
Anpassungsstrategien: Immer mehr Bürger verblassen in einer inneren Emigration
Konstantin Fechter

Am 12. September 1940 zogen vier Knaben bei Lascaux durch die Wälder im Tal der Vézère. Auf ihrer Suche nach einem legendären Geheimgang, an dessen Ende unsagbarer Reichtum warten sollte, stiegen sie in eine Öffnung, die das Wurzelwerk einer umgestürzten Pinie hinterlassen hatte. Jeder Schritt in den Schacht führte sie tiefer in die fremde Kühle des Erdreichs hinab. Im spärlichen Licht einer als Lampe improvisierten Fettpresse fanden die Abenteurer schließlich ihren Schatz: An den Kalksteinwänden der Grotte erblickten sie metergroße Zeichnungen vom Auerochsen, Wildpferden und Bären. In Schwarz, Braun, Ocker und Rot leuchteten die paläolithischen Malereien der großen Herde, eine wiederentdeckte Botschaft des Homo sapiens. 

In einem abgelegenen Seitenarm der Höhle von Lascaux befindet sich eine besondere Abbildung. Sie zeigt einen menschlichen Körper mit dem Kopf eines Vogels. Der Vogelmann ist die vielleicht älteste bildliche Darstellung eines Homo sapiens. Bemerkenswerterweise zeigt sie ihn ohne Gesicht, sondern verbirgt es unter einer Maske.

Die Maske begleitet den Menschen seit seinen frühesten Tagen. Der Speer brachte ihm Nahrung, der Feuerstein Wärme, aber die Maske war seine Verbindung in das Reich der Götter und zur Stimme der Urahnen. Zu ihrer Herstellung trug er Farbe oder Asche auf sein Gesicht, fertigte sie aus Holz, Bast und Ton. Sie wurde bei Stammesriten, aber auch in der Schlacht zur Abschreckung der Feinde getragen. Von den antiken Festen wie den Bacchanalien über mittelalterliche Mysterienspiele bis hin zum Fasnetbrauch reicht diese Geschichte der Gesichtsbedeckung.

Eng verbunden mit ihr bleibt das Wechselspiel von Identität und Anonymität. Sie kann entweder das Gesicht und die darin lesbaren Absichten verschwinden lassen oder gerade durch diese Verbergungstat dem Träger eine bestimmte Rolle zuweisen. Schon im etymologischen Ursprung der Maske findet sich diese rätselhafte Mehrdeutigkeit. Am wahrscheinlichsten stammt der Begriff vom arabischen maschara ab, was so viel wie Narr oder Scherz bedeutet. Hier klingt eine besondere Funktion für eine bestimmte Personengruppe an: ein notwendiger Gegenstand zum Schutz derjenigen, die außerhalb der Ordnung stehen. 

Die Maske erhält einen negativen Beigeschmack

Ihre Profanisierung erfuhr die Maske in der Commedia dell’arte, dem italienischen Renaissancetheater mit Schwerpunkt in Venedig. Dort verliert das Maskenspiel seinen religiösen Charakter und wandelt sich zur Darstellung von Sozialtypen. Die Commedia dell’arte verzichtet auf Textvorlagen, ihre Handlungen wie Rollen sind stereotypisiert. Es treten unter anderem der Dottore, ein Arzt oder Jurist, der Wissen ohne Intellekt verkörpert, der Capitano, ein großmäuliger Soldat und Feigling, oder die lebenslustige Magd Colombina auf. Ein spirituelles Geheimnis verbargen die ihnen zugeschriebenen Masken jedoch nicht mehr. Stattdessen wiesen sie dem Einzelnen einen holzschnittartigen Platz im ständischen Ordnungsgefüge zu.

Mit der Moderne verschwindet die Maskierung von der Bühne. Die Aufklärung und ihre Idealvorstellung von vernunftgesteuerten Akteuren benötigt weder ein vermittelndes Medium zu den Göttern noch die Verschleierung der Identität. Der klare Verstand fordert ein erkennbares Äußeres, eindeutig und zuordenbar. Das offene Visier soll einen demokratischen Diskurs prägen, der vielleicht politische Gegner, aber keine Feindschaft kennt. Ihrer kultischen Bedeutung beraubt, erhält die Maske einen negativen Beigeschmack. Das Vermummungsverbot bannt sie von Demonstrationen, biometrische Paßdaten stellen den überall identifizierbaren Staatsbürger sicher. Die Maske wird zum Utensil derjenigen, die entweder eine frivole oder böse Gesinnung zu verbergen haben. Banditen, das Phantom der Oper oder Darth Vader tragen sie ebenso wie die Besucher des Swinger-Clubs.

Die maskierten Massen, welche das Alltagsleben des Jahres 2021 prägen, stehen somit scheinbar im Widerspruch zu der offenen Gesellschaftsform, die sie zu repräsentieren wünschen. Doch im Äußeren nimmt nur Gestalt an, was im Inneren längst vorherrscht. Durch den Wandel von der freien Beteiligungskultur zur Ächtungsgesellschaft wird jede Debatte schnell zum verminten Gelände. Da in den ideologischen Grabenkämpfen der späten Berliner Republik längst keine Argumente mehr erörtert, sondern Verbalattacken ausschließlich ad hominem geführt werden, entscheiden sich immer mehr Bürger zu schweigen.

Ein hohles Lächeln ersetzt die Gegenrede

In den sozialen Medien, am Arbeitsplatz und bei Familientreffen beginnen diejenigen, deren Ansichten dem offiziösen Gebräu aus Betroffenheitskitsch, Autoviktimisierung und Realitätsverbiegung widersprechen, eine Persönlichkeitsfassade zu errichten. Ein hohles Lächeln ersetzt die Gegenrede, inneres Kopfschütteln das argumentative Stellen der Gesinnungsschwätzer. Die eigenen Gedanken werden nur noch im engsten Kreis aus Gleichgesinnten ausgetauscht, öffentlich dagegen der funktionsfähige und widerspruchslose Bürger inszeniert.   

Opposition wird dann eingestellt und durch konforme Masken ersetzt, wenn keine Aussicht auf Besserung der Lage mehr besteht. Wer sich in keinem Satz der veröffentlichten Meinung mehr wiederfindet, der beginnt sie zu meiden. Auf Zensur folgt Selbstzensur, der Widerständige verblaßt. Er erhofft durch ein stilles Eingestehen der Niederlage wenigstens seine persönlichen Lebensumstände in Form von Arbeit, Freunden und sozialem Status in bessere Zeiten zu retten.

Doch das sadistische Momentum der um sich greifenden Identitätspolitik endet nicht in der Unterdrückung von Widerspruch. Vielmehr zwingt sie die Kapitulanten der Normbevölkerung immer tiefer in ihr System aus Unterwerfungsgesten, Empörungsneurosen und Reflexionsinstruktionen zur Hinterfragung vermeintlicher Privilegien. Ein Heraushalten aus der ideologischen Vereinnahmung wird durch die Politisierung aller Lebensbereiche immer mehr zum Ding der Unmöglichkeit.

Wahl zwischen Verbitterung und mentaler Anpassung

Die maximale Distanz zwischen sozialer Fassade und innerer Erlebniswelt sorgt für den langsamen Verfall der ursprünglichen Persönlichkeit. Den Maskierten bleibt nur die Wahl zwischen schleichender Verbitterung oder Entlastung durch mentale Anpassung. Einst als schützendes Provisorium gedacht, ersetzt die Hülle den eigentlichen Kern. Die Maske verliert ihren abschirmenden Sinn, entwickelt ein Eigenleben und beginnt sich über die Psyche ihrer Träger zu legen. Täglich fällt es schwerer, sie vor dem Blick in den Spiegel abzunehmen. Dies geschieht aus Bequemlichkeit und Konfliktscheu, aber auch aus der Furcht, daß darunter ein Fremder erscheint.

Das diabolische Nullsummenspiel des Maskentanzes liegt darin, daß diejenigen, welche unverfälschtes Individuum bleiben möchten, durch ihren Behauptungswillen leicht in eine Rolle gedrängt werden können, die ihnen ebenso wenig entspricht. Ganze Schwadronen von Fehldeutern sind unaufhörlich mit der Erfassung und Katalogisierung der letzten Widersprechenden beschäftigt.

Ähnlich der Commedia dell’arte werden deren Äußerungen auf stereotypisierte Figuren wie den Gefährder, den Leugner oder den geistigen Brandstifter umgeschrieben. Dort dienen sie als bitter benötigtes Abschreckungsobjekt, dessen Anfeindung der Wahrung des zivilgesellschaftlichen Friedens dient. Zwar entgehen sie der konformen Maske, verlieren jedoch in anderer Form die Kontrolle über die Wahrnehmung ihrer Person. Es bleibt lediglich die Wahl zwischen Selbstverfremdung oder einer Charakterentstellung durch andere.

Wie stark die Diskrepanz zwischen öffentlichem Scheinleben und dem verschütteten Subjekt ausfallen kann, zeigt der russische Schriftsteller Michail Prisch-

win. Dieser war in der Sowjetunion ein gefeierter Autor von Jugendbüchern und naturphilosophischen Erzählungen in Millionenauflage. Überschüttet mit Auszeichnungen und Vergünstigungen lebte der Literat ein privilegiertes Leben im Arbeiter- und Bauernstaat, geprägt von ausgiebigen Jagdreisen. 

Doch jenseits dieser Inszenierung war Prischwin ein Getriebener. Stets führte er ein geheimes Tagebuch mit sich, in dem er seit 1917 auf nahezu manische Weise die Ereignisse im revolutionären Rußland dokumentierte. Unbemerkt von der Obrigkeit hielt er über 35 Jahre lang die selbstgerechte Verblendung von Parteifunktionären und den daraus geborenen Terror gegen die Bevölkerung fest. In über 120 dicht beschriebenen Heften finden sich klarsichtige Schilderungen, die von Verzweiflung und Zorn über den Verlust der Heimat geprägt sind.

Prischwins literarisches Vermächtnis interessiert deswegen, weil er trotz seines Arrangements mit dem Regime eben nicht gewissenloser Opportunist war. Zu Beginn reagiert er mit Empörung auf die Anmaßungen der Revolution, schreibt Beschwerdebriefe an Trotzki. Doch nachdem die Schrauben angezogen, Repression und Gleichschaltung zur Tagesordnung werden, verblaßt Prischwin wie Millionen andere russische Bürger. Ihm gelingt es jedoch nicht, unter der Maske einer unpolitischen Gleichgültigkeit auch seine Schuldgefühle zu versenken. Immer wieder prägen Scham und Verachtung über das eigene Schweigen seine Gedanken. Im Jahr 1940, dem selben Jahr, in dem vier französische Jugendliche in eine Höhle mit uralten Maskenzeichnungen stolpern, notiert er: „Ich schleppe die Hefte, dieses Depot unbrennbarer Worte, überall mit hin (…). Sie sind meine Verteidigung, wenn das Gewissen Gericht hält über das, was das Leben mit mir angestellt hat.“

Die Bewahrung der Fragmente seiner Restidentität bedeuten Prischwin mehr als die Hülle seiner biologischen Existenz. Als eines Tages sein Haus in Brand gerät, stürzt er sich in die Flammen, um sie zu retten. Seinen Tod 1954 überdauern die Tagebücher jahrzehntelang eingeölt und vergraben in Blechkisten, bis sie nach dem Untergang des Sowjet-imperiums zusammen mit seiner Revolutionsgroteske „Der irdische Kelch“ endlich veröffentlicht werden. Sie legen Zeugnis ab über einen zutiefst zerrissenen Menschen, dem das Schicksal ein Dasein mit offenem Visier mißgönnte. Zugleich beweist jede Zeile, daß selbst unter der schweren Last der Maske eine stille Würde zu suchen und zu finden ist.

Über 20.000 Jahre sind vergangen, seit unbekannte Hände den Vogelmann auf die Felsen von Lascaux auftrugen. Beim Anblick der Höhlenmalerei soll Pablo Picasso ausgerufen haben: „Wir haben nichts dazugelernt!“ Gemeinhin wird diese Aussage als die Verzückung des spanischen Meisters über die Kunstfertigkeit des frühen Homo sapiens verstanden. Vielleicht meinte Picasso jedoch noch etwas anderes. Vielleicht unterscheidet sich der moderne Mensch kaum von dem jungpaläolithischen Maler, weil er bis heute sein wahres Gesicht nicht zeigen kann. Es ändern sich lediglich die Masken, die er trägt. Die der Zivilisation kann er mit einem Griff abstreifen.