© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

Der Fall Thiel gegen den WDR
Wegen GEZ-Verweigerung in Haft: Tom Buhrows Anstalt drückt sich vor der Verantwortung
Markus Mähler

Er ist der Mann mit den großen Zahlen: 395.000 Euro pro Jahr und für seine Pension liegen 3,45 Millionen bereit. Tom Buhrow ist der Vorsitzende der ARD und verwaltet einen Dschungel aus Anstalten, Pfründen, Milliarden und Paragraphen. Dieser Tom Buhrow steht vor der Entscheidung seines Lebens: Wie lange schweigt der Funktionär? Möchte Buhrow als ARD-Vorsitzender in die Geschichte eingehen, der eine Haft salonfähig gemacht hat – Gefängnis für die, die den Rundfunkbeitrag nicht zahlen?

Das wird sich im Fall Georg Thiel entscheiden. Er sitzt seit dem 25. Februar in der JVA Münster in Erzwingungshaft. Thiel soll aufgeben, den Rundfunkbeitrag zahlen oder dem Gerichtsvollzieher Vermögensdaten verraten; etwa eine Kontonummer, damit er endlich pfändbar ist. Solange Thiel weder das eine noch das andere tut, solange bleibt die Zellentür zu, längstens sechs Monate. 

Thiel wollte all das nicht, er will sich aber auch nicht brechen lassen. Er ist Schlesier, kommt 1994 nach Deutschland und arbeitet freiberuflich als technischer Zeichner in Nordrhein-Westfalen. Thiel lebt als „Minimalist“. Er spart überall. Vor 25 Jahren schafft Thiel den Fernseher ab, setzt sich auf Mediendiät. Er fühlt sich ohne das Framing des Rundfunks freier. Er ist abgemeldet, die GEZ bescheinigt es.

2013 steht alles kopf. Der Rundfunk holt Millionen Menschen gegen ihren Willen zurück in den Beitragsservice. Der neue Rundfunkbeitrag ist eine juristische Mausefalle: Ob die Bürger die Öffentlich-Rechtlichen konsumieren oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Sie müssen ARD und ZDF lebenslang bezahlen, weil sie irgendwo wohnen. 

Georg Thiel zahlt nicht, also läßt ihn der WDR immer wieder vollstrecken. Thiel und die Stadtkasse Borken: Jahrelang haben sie miteinander kein Vergnügen. 2020 wird mit einem Haftbefehl gedroht. Anfang 2021 schreibt die Gerichtsvollzieherin des Amtsgerichts Borken: „Ihre Verhaftung werde ich durchführen am Donnerstag, 25. Februar 2021, um 10.00 Uhr. Sie werden deshalb gebeten, zum oben genannten Zeitpunkt in ihrer Wohnung anwesend zu sein.“ Georg Thiel wartet. Wenn er jetzt aufgibt – es geht um 650 Euro –, dann löst sich dieser Haftbefehl in Luft auf. Doch Thiel zahlt nicht, er wird gegen 10.30 Uhr festgenommen.

Über hunderttausend Menschen verfolgen seitdem seine Haft und den Fall auf Youtube – mit offenen Mündern. Schon lange läuft vieles im Hintergrund aus dem Ruder. Die ARD überlastet das Land mit dem Rundfunkbeitrag. Sie überflutet die Kommunen mit Vollstreckungen, bereits 2016 verdoppelt sie ihre Zahl auf etwa 1,5 Millionen pro Jahr. Höhepunkt: Damals sitzt auch Sieglinde Baumert 61 Tage hinter Gittern – das wird zum Augenöffner. Viele spüren: Das läßt sich nicht mehr rechtfertigen. Hat die ARD diese Haft danach nicht auch insgesamt als unangemessen bezeichnet?

Eine Stellungnahme verschwindet plötzlich 

Hat sie nie. Sie flüchtet sich in Textbausteine ohne rechtliche Folgen. Auch heute kommentiert der Rundfunk seine Verantwortung bei den Haftfällen nicht. Allerdings: Kommt ein öffentlicher Aufschrei, geht die Zellentür auf – wie von Zauberhand. Die ARD handelt im Hintergrund. Sie stößt diese Vollstreckungen an und kann jederzeit die Reißleine ziehen. Sieben der letzten elf Haftfälle bündeln sich beim Westdeutschen Rundfunk, die anderen Medien schweigen dazu. Der WDR nutzt Georg Thiel offenbar als Härtetest. Der Haussender von Tom Buhrow weiß um die Haft, aber er tut seit sechs Wochen nichts.

Deshalb möchte Olaf Kretschmann (JF 6/19) eine Brücke bauen. Der Berliner ruft in Köln an, schreibt, spricht auf Youtube und kontaktiert Medien. Warum ist er beim Tauziehen um Thiels Freiheit so unermüdlich? „Weil ich weiß, daß Georg das bis zum Ende aussitzen wird. Er tut es auch für andere Menschen, die nicht so weit gehen können.“ Kretschmann hat die Initiative rundfunk-frei.de gegründet, es gibt 160.000 Unterstützer, und Thiel war von Anfang einer davon. 

Wie stellt sich Kretschmann die Brücke zum WDR vor? Ausgerechnet Eva-Maria Michel gibt ihm Hoffnung. Sie ist Buhrows Stellvertreterin beim WDR und die Rechtsberaterin des Senders. Noch im März 2017 schreibt die Justitiarin, daß eine Erzwingungshaft „aus unserer Sicht in der Regel nicht (...) verhältnismäßig ist“. Sobald der „WDR von einer Inhaftierung (...) erfährt, prüft er selbstverständlich diesen Einzelfall“. 

Um diese Prüfung bittet Kretschmann: „Tom Buhrow hat es bei Georg Thiel in der Hand. Er kann die Haft mit einem Fingerschnippen beenden.“ Er könnte es zur Chefsache erklären und als ARD-Vorsitzender weitere Verhaftungen verhindern, neuartige Lösungen auf den Weg bringen. Oder er könnte sagen, daß das Gefängnis zum Rundfunkbeitrag gehört wie die millionenfache Vollstreckung.

Buhrow schweigt, Kretschmann schmiedet einen Plan für den 19. März: An diesem Tag berät sich der Rundfunkrat mit Tom Buhrow in Köln. Der Rat soll die Öffentlichkeit beim WDR repräsentieren, und deshalb ist auch diese Sitzung öffentlich. „Was wäre, wenn Buhrow dort zum ersten Mal über Georg Thiel spricht, weil er diesem Gremium eine Haft erklären muß?“ Kretschmann wird aktiv: Die Mitglieder des Rundfunkrats erhalten nun viele Briefe von Bürgern. 

Plötzlich wird auch der WDR betriebsam. Am 17. März schreibt der Rundfunkrat auf wdr.de über die „Erzwingungshaft eines Beitragsverweigerers“, es gibt eine Stellungnahme. Gäste dürfen sich trotz Corona zur Sitzung anmelden, Kretschmann würde gerne aus Berlin per Videoschalte sprechen.

Am Tag der Sitzung geht dann alles Schlag auf Schlag: Die Seite und die Stellungnahme des WDR verschwinden aus dem Netz, die Gäste dürfen in der Kölner Messehalle nicht sprechen. Der Vorsitzende des Rundfunkrats, Andreas Meyer-Lauber, erklärt seinen Mitgliedern, die ARD könne das „Verfahren“ – also die Haft – nicht beeinflussen. Und Georg Thiel? Der liest in der Zelle eine Antwort des WDR. Es ist ein Brief der Verwaltungsdirektorin, sie schreibt: „Ihrer Bitte, den Haftbefehl zurückzuziehen, können wir allerdings nicht nachkommen. Sie haben jederzeit selbst die Möglichkeit, die Haft zu beenden. Ich weise darauf hin, daß der Haftbefehl von der zuständigen Vollstreckungsbehörde, der Stadtkasse Borken, beantragt wurde.“

Thiel soll weiterhin einsitzen

Thiel soll also in seiner persönlichen Hölle sitzen. Olaf Kretschmann ist schockiert: „Die Öffentlichkeit und der Rundfunkrat werden vom WDR bewußt belogen.“ Stimmt das? Presseanfrage an den WDR, doch der wiegelt ab. Man will auf Thiels Haft nicht eingehen, das sei „eine gesetzlich geregelte Maßnahme, von der eine Vollstreckungsbehörde Gebrauch machen kann“.

Ja, Borken hat den Haftbefehl beantragt. Sie darf das in Nordrhein-Westfalen nach dem Paragraphen 5a des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes. Allerdings gibt es auch eine Vorschrift, nach der sich die Stadt vorher mit dem Gläubiger darüber abstimmen mußte. Das geht nicht ohne ein entsprechendes Dokument, und der WDR ist der Gläubiger. Die Anstalt kann sich also nicht so einfach aus der Affäre ziehen. Wenn Thiel sich zu einer Akteneinsicht entschließt, darf Buhrows Sender einiges erklären – auch dem Rundfunkrat.