© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

Deutsche Außenpolitik als Geschichte einer Selbstentmündigung
Deutschland von der Rolle
Peter Michael Seidel

Die Corona-Krise ist kein Einzelfall: Fehlende Bekämpfungsstrategien, schleppend einsetzende Unterstützung, mangelnde Planung und fehlende Perspektiven gibt es nicht nur dort. Ständige Veränderungen der Kriterien bei der Bewertung von Inzidenzen, R-Wert und Mutationen. Deutlich interessengeleitete Gutachten und zahlreiche konkurrierende Gremien und Zuständigkeiten, ein Bild offenkundiger Hilflosigkeit. Es ist geradezu das Qualitätskriterium einer überforderten Berliner Führung, und dies nicht erst in dieser Pandemie.

Auch die Diskussion um die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik generell und speziell den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan ist ein weiteres Beispiel für eine orientierungslose Bundesregierung. Die Bundeswehr steht seit Jahrzehnten in Afghanistan, und angeblich verteidigt sie am Hindukusch Deutschland. Aber wie, und mit welchem Ergebnis? Durch das Fehlen realistischer Ziele konnte es keine Koordinierung, keine Kriterien irgendeiner Zielerreichung, sondern nur Rivalitäten unterschiedlicher Politik-, Verwaltungs- und Kommandoebenen geben. So zerfaserte der Einsatz, und es blieb nur symbolische Politik ohne Exitstrategie.

Das gleiche Bild in der deutschen Europapolitik. Viel mehr als „mehr Europa“ und erhöhte Berliner Zahlungen an Brüssel gibt es dort nicht. So kam es im Sommer vergangenen Jahres auf dem sogenannten Corona-Wiederaufbaugipfel der EU folgerichtig zu historisch bislang einmaligen Verschuldungs- und Transferprogrammen in Höhe von Hunderten von Milliarden Euro. Der Marsch in die europäische Schuldenunion hat damit eine neue Dimension gewonnen. Dennoch bekundet man in Berlin weiter die Bereitschaft, mehr für Europa zu zahlen. Der Corona-Gipfel war nur der Anfang.

Mit dem Fall der Berliner Mauer kam vor über drei Jahrzehnten Bewegung in die deutsche Außenpolitik mit der erneuerten Perspektive der deutschen Wiedervereinigung. Um Frankreichs Unterstützung zu gewinnen, stimmte Kanzler Helmut Kohl einer beschleunigten Einführung einer europäischen Währungsunion zu. In der damaligen Situation verständlich, um das offene Fenster der Gelegenheit zu nutzen und die staatliche Einheit in trockene Tücher zu bekommen.

Doch durch die nationale Interessenpolitik nicht nur der Franzosen geriet diese Konzession schnell auf ein falsches Gleis. Die Deutsche Bundesbank und maßgebliche Wirtschaftsprofessoren hatten massive Bedenken. Sie sollten sich nur zu bald als richtig herausstellen.

Bereits 1990 hatten gewachsene innenpolitische Polarisierungen Verwerfungen hervorgebracht. Vielfach waren es die besonders von der DDR und ihrer Antifa-Staatsdoktrin beeindruckten und auf die Zweistaatlichkeit festgelegten Politiker, die sich jetzt als hundertfünfzigprozentige Europäer gaben – Joschka Fischer bei den Grünen, der Lafontaine-Flügel in der SPD, Gruppen um Geißler, Blüm oder Süssmuth in der CDU, aber auch überzeugte Europäer wie Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, die dafür kämpften, die deutsche Identität in einer europäischen Union aufzulösen. Dies gelang nur unvollkommen. Die D-Mark nahmen die EU-Mitglieder gern, aber von einer politischen Union wollten sie nichts wissen. Und so begann diesmal wirklich ein deutscher Sonderweg in Europa.

Viele bedeutende Experten haben jahrelang mit differenzierten Korrekturvorschlägen Grundlagen für eine aktuelle und realistische deutsche Rolle in der Außen- und Europapolitik formuliert. Und blieben von der Berliner Politik unberücksichtigt.

Dieser Sonderweg sollte sich unter der rot-grünen Bundesregierung noch verschärfen. Insbesondere Außenminister Joschka Fischer malte gerne den Teufel an die Wand, sollte es nicht bald zu einem europäischen Superstaat kommen. Dann drohe ein neuer Faschismus, eine reaktionäre deutsche Rechte wolle ein viertes Reich errichten, militant und rassistisch. Eine provinziell-moralisierende und schwärmerisch-europäische Weltsicht, die Fischer erst spät und auch nur teilweise unter dem Eindruck der Massenmorde in Jugoslawien korrigierte, ohne dabei Abstand vom Auflösen Deutschlands in den vereinigten Staaten von Europa zu nehmen, wie auch seine Europarede in der Berliner Humboldt-Universität zeigte. Das Eingreifen von Bundeskanzler Gerhard Schröder konnte die gröbsten Auswüchse begrenzen.

Schon Helmut Kohl hatte die europäische Währungsunion „irreversibel“ gewollt, und das hat seine spätere Nachfolgerin Angela Merkel auch so beibehalten, wie ihr Standpunkt „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ zeigte. So konnte es auch nicht überraschen, daß sie in der Griechenlandkrise den von ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble erzielten Konsens der EU-Finanzminister kippte und Griechenland in der Währungsunion beließ. Eine Vorentscheidung über die Entwicklung der Währungsunion und der EU, wie sich noch zeigen sollte.

Kommt jetzt das Endspiel zum europäischen Superstaat? Klar ist: Ob man dieses Endspiel bereits mit der Griechenlandkrise oder naheliegender erst mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie und dem EU-Coronagipfel beginnen läßt – das Endspiel um die Zukunft der EU und Deutschlands hat begonnen und sich durch den Brexit nur verschärft und beschleunigt. Warum? Dinge geschehen selten aus einem einzigen Grund. Die eigentliche Kunst der Politik besteht darin, sich Unvorhergesehenes zunutze zu machen. Dem Laien erscheint dies dann oft wie eine Verschwörungstheorie und kann auch als solche hingestellt werden. Ist „Corona“ eine Steilvorlage dafür?

Einiges spricht dafür, die Pandemie als Anlaß anzusehen, daß die Politik das Endspiel um die Zukunft Europa eröffnet hat. Galt bisher die Juncker-Doktrin, so lange an der zentralistischen Schraube zu drehen, bis es jemandem auffällt und er protestiert, so gilt längst die Schäuble-Doktrin, keine Krise ungenutzt zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht wird dabei offenbar immer mehr als Hemmschuh empfunden. Jedenfalls seit Mai vergangenen Jahres, als es zum erstenmal eindeutig Position gegen eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) einnahm.

Anlaß war eine Art Blankoscheck des EuGH für unbegrenzte Anleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB). Dieser Ausdehnung der Staatsschuldenpolitik durch die EZB wollte das Verfassungsgericht sich nicht mehr beugen. Doch durch eine rein legalistische Pro-forma-Politik zogen sich Bundestag und Bundesregierung aus der Affäre. Von abgekartetem Spiel war daraufhin von Verfassungsjuristen die Rede. Mittlerweile geht es längst weiter, mit der Diskussion um eine europäische Einlagensicherung und damit neue Haftungen deutscher Banken- und Sparkassenkunden soll weiter kräftig an der Vergemeinschaftungsschraube gedreht werden.

Die Berliner Politik hat, sofern sie die Entscheidung des Verfassungsgerichtes nicht indigniert kritisierte, sie des weiteren schlicht ignoriert. Obwohl viele bedeutende Experten in den letzten Jahren versucht haben, durch zahlreiche Veröffentlichungen gegenzusteuern: Ökonomen, Institutsleiter, Politikprofessoren, Thinktank-Mitarbeiter und Auslandskorrespondenten, gerade auch aus Brüssel. Sie haben zahlreiche differenzierte und in der Grundtendenz klare Korrekturvorschläge vorgelegt. Und sie haben damit Grundlagen für eine aktuelle und realistische deutsche Rolle in der Außen- und insbesondere Europapolitik im 21. Jahrhundert formuliert. Jahrelang. Offensichtlich ohne jede erkennbare Berücksichtigung durch die Berliner Politik.

Auch diese Expertenstellungnahmen ignoriert die Berliner Politik als unwillkommene Hinweise und nimmt ebenfalls nur pro forma in Titel oder Vorwort Themen wie „Deutschlands Rolle in den kalten Kriegen des 21. Jahrhunderts“ (Alexander Graf Lambsdorff) oder „Deutschland und seine Rolle in der Welt“ (Gerhard Schröder) auf. Im Text dann Fehlanzeige. Keine Ausführungen mehr zum Thema. Früher nannte man dies Etikettenschwindel.

Auch wenn dem politischen Personal Fehler unterlaufen, muß dies noch lange nicht heißen, daß an dem einmal eingeschlagenen Kurs nicht unbeirrt aller Rückschläge festgehalten wird. Das ist in der Corona-Krise so, und das war und ist in Afghanistan so.

Heute muß man fragen, ob sie Deutschlands Zukunft offenbar längst abgeschrieben haben. Als eigenständigen Akteur gibt es für diese Politiker das Land offenbar nicht mehr. Deutschland sei nicht mehr als ein „Sandkorn“ der Weltpolitik, als eigenständige Kraft nicht einmal mehr denkbar. Das ist kein Eingeständnis von Versagen, denn sie selbst sind ja die Besten, nur das Land, das ist halt nix ... Wenn das keine Selbstentmündigung ist, was dann? Ein „Sandkorn“ rettet Europa – Märchen oder Alptraum? Oder ist nur aus der einstigen Antifa-Staatsdoktrin der DDR eine neudeutsche Zivilreligion geworden?

Bereits vor Jahren haben die deutschen Zahlungen mit etwa 40 Milliarden Euro jährlich den Reparationen aus dem Versailler Vertrag entsprochen, wie der Mainzer Geschichtsprofessor Andreas Rödder ausrechnete. Doch auch im aktuellen Koalitionsvertrag hat die Berliner Regierung gleich zu Beginn festgelegt, man sei weiter bereit, mehr für die EU zu zahlen. Mit den Aufwendungen für Hunderttausende illegal eingewanderte Ausländer dürften sich diese Zahlungen allein auf Bundesebene wohl der 70-Milliarden-Ebene nähern.

Schon bald könnten es mehr sein, da die Probleme der Währungsunion in ihrer gegenwärtigen Form und Entwicklungstendenz anscheinend unlösbar sind. Aber daß in Zukunft 80 Millionen Deutsche an die 80 Milliarden Euro pro Jahr für Außenaufwendungen berappen wollen, ist in einer selbstbestimmten Demokratie doch recht fraglich. Zumal wenn die Politik schon jetzt davon spricht, neue Steuererhöhungen einzuführen und die Schuldenbremse im Grundgesetz aufzuheben.

Von außen sieht Politik häufig so aus, als ob alles auf vollen Touren läuft, zwar oft im Kreis, und mit erstaunlichem Tempo zu keinen Ergebnissen kommend. Auf den ersten Blick mag das auch richtig sein. Doch auch wenn dem politischen Personal taktische und strategische Fehler unterlaufen, muß dies noch lange nicht heißen, daß an dem einmal eingeschlagenen Kurs nicht unbeirrt aller Rückschläge festgehalten wird. Das ist in der Corona-Krise so, das war und ist in Afghanistan so, und warum sollte es nicht auch in der deutschen Europapolitik so sein?

In seinem „Rußlandhaus“-Roman zitiert John le Carré Ende der 80er Jahre einen russischen Philosophen aus dem 19. Jahrhundert, der für das dem Untergang geweihte russische Zarenreich typisch ist: „Wie süß, sein Heimatland zu hassen und seinem Untergang begierig entgegenzusehen … und in seinem Untergang die Morgenröte umfassender Erneuerung zu erkennen.“ Heute, auf dem Höhepunkt der deutschen Europapolitik unter den Bedingungen der Corona-Pandemie mit ihren massiv verstärkten Kampagnen zur Gesellschaftsbeeinflussung, kommen einem diese Worte als nicht mehr ganz so aus der Zeit gefallen vor, sondern als doch sehr zeitgeistig.

Schon vor Jahren hat der renommierte Mannheimer Politikprofessor Peter Graf von Kielmansegg davor gewarnt, die Deutschen könnten eines Tages in Deutschland schlafen gehen und am nächsten Morgen in den United States of Europe (USE), dem von den Briten immer befürchteten europäischen Superstaat, aufwachen. Befürchtet hat er eine Politstrategie, den Übergang zu den USE nicht ins Bewußtsein der Öffentlichkeit treten zu lassen, eine Entdemokratisierung des Integrationsprozesses. So ein Pandemie-Lockdown kann dafür eine hervorragende Chance bieten, die Wahrnehmungsschwelle der Bevölkerung durch Ablenkung massiv zu erhöhen und die Corona-Krise so für die Schaffung der USE zu nutzen. Sogar das deutsche Bundesverfassungsgericht hätte in dem Fall dann nur noch das Nachsehen. Es wäre dann letztendlich nur ein Sandkorn im Europamotor des politischen Berlin gewesen. Auch durch politisch motivierte Umbesetzungen?






Dr. Peter Michael Seidel, Jahrgang 1956, arbeitet als Public-Affairs-Berater und Publizist in Frankfurt am Main. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Traditionen und Neuausrichtung deutscher Außenpolitik („Mehr als nur Helfen“, JF 46/17).

Foto: Offener Himmel über dem Neubau des Auswärtigen Amtes in Berlin: In Hinblick auf realistische Ziele und selbstbewußtes Handeln, das dem deutschen Souverän dient, ist noch viel Luft nach oben