© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

Der Verrat der Intellektuellen
Warum der ukrainische Holodomor Jahrzehnte benötigte, um im „liberalen Europa“ anzukommen
Oliver Busch

Reichlich spät, 73 Jahre nach seinem gewaltsamen Tod, erhielt der walisische Journalist Gareth Jones posthum den Verdienstorden der Ukraine, seiner Enkelin 2008 vom ukrainischen Botschafter feierlich übereicht in der Westminister Hall. Damit wurde ein mutiger Mann geehrt, der versucht hatte, die Welt über den von Stalin zwischen 1931 und 1934 ins Werk gesetzten „Holodomor“, die Vernichtung der als „Kulaken“ stigmatisierten ukrainischen Bauern, zu informieren. Jones hat seine waghalsigen Reportagen mit dem Leben bezahlt. Allerdings nicht an Ort und Stelle, wo er „undercover“ unterwegs war, in der „Hölle des Eiskellers“ zwischen Kiew und der heutigen separatistischen „Republik Donezk“. Sondern im Fernen Osten, wo er 1935 im Grenzgebiet zwischen der Mongolei und der Mandschurei dabei war, japanische Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Dort erreichte ihn der lange Arm Stalins, dessen NKWD-Schergen Jones entführten und erschossen.

Jones’ kurzes Leben, das seinen dramatischen Höhepunkt als Augenzeuge eines Völkermords erreichte, ist 2019 von Agnieszka Holland verfilmt worden, stieß aber, wie bei der künstlerischen Darstellung nichtdeutscher Großverbrechen üblich, nicht auf allzu begeisterte feuilletonistische Resonanz. Für Georges Nivat, Jahrgang 1935, Nestor der französischen Slawistik und einer der international angesehensten Rußlandexperten, zeigen sich in diesen lauen Reaktionen immer noch Spuren jener Toleranz, die das ach so „liberale Europa“ bis zur „Wende“ gegenüber der Sowjetdiktatur übte (Lettre International, 1/2021). Nivat macht daher neben dem Verhungern im „Land der Großen Lüge“, das der Film naturgemäß unvollkommen, mit wohlgenährten Komparsen etwa, in Szene setzt auch den „Verrat der Intellektuellen“ im Westen zum Thema, an dem auch Jones scheiterte. 

Denn der Journalist, der auf Empfehlung seines walisischen Landsmanns, des britischen Ex-Premiers Lloyd George 1931 einreisen durfte und der in Moskau eine Vorzugsbehandlung genoß, konnte das unter Lebensgefahr beschaffte Material über den millionenfachen Hungertod ukrainischer Bauern zwar nach seiner kurzzeitigen Verhaftung durch den NKWD außer Landes schmuggeln. Aber in Westeuropa und in den USA gingen seine Artikel in der Flut probolschewistischer Veröffentlichungen 1932 nahezu unter.

Maxim Gorki rechtfertigte den millionenfachen Mord

Eine besonders üble Rolle, an die Hollands Film auch erinnert, spielte dabei Walter Duranty, ein von den Sowjets mit einem Informationsmonopol ausgestatteter US-Journalist, der 1932 den Pulitzer-Preis dafür erhielt, daß er die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Stalins Gulag-Imperium und den USA geradezu herbeigeschrieben hatte. Doch damit Duranty meinungsbildend habe wirken können, dafür, so führt Nivat aus, sei der Boden von Fellow Travellers Lenins und Stalins gedüngt worden, die in den 1920er und 1930ern als Gäste im Land des „Neuen Menschen“ weilten. 

Nivat erwähnt stellvertretend die beiden französischen Literatur-Nobelpreisträger Romain Rolland und André Gide, die sich in Potemkinschen Dörfern ihren Glauben an den unaufhaltsamen Fortschritt des Sozialismus befestigen ließen. Gide gehörte zu den wenigen, die ihren Irrtum öffentlich bekundeten, während das Gros der westlichen Intelligenzija, darunter Deutsche wie Lion Feuchtwanger vorneweg, noch Stalins „Große Säuberung“ in etwa so rechtfertigte wie Walter Duranty den Holodomor: „Man kann kein Omelett machen, ohne Eier zu zerschlagen.“ Zu den widerwärtigsten Apologeten eines Massenmordes, dessen Aufarbeitung ukrainische Historiker noch lange beschäftigen wird und dessen Opfer, zwischen fünf und sechs Millionen Menschen, weiterhin nur zu schätzen sind, zählt Nivat jedoch einen Russen, den als Staatsrentner von den Bolschewiken im sonnigen Italien ausgehaltenen Maxim Gorki (1868–1936). 

Der „russische Gerhart Hauptmann“, 1902 berühmt geworden mit dem sozialkritischen, in der lumpenproletarischen Unterwelt des Zarenreiches spielenden „Nachtasyl“, wollte 1932 mit ähnlich „Erniedrigten und Beleidigten“ kein Mitleid mehr zulassen und kommentierte die für die Ukraine bestimmte Version der „progressiven Umformung des Menschen“ denkbar zynisch, Täter und Opfer skrupellos vertauschend: „Im Lande organisieren raffinierte Feinde gegen uns den Hunger, terrorisieren Kulaken die Bauernkollektive durch Morde, Brandschatzungen und andere feige Gemeinheiten. Gegen uns ist alles, was längst seine historische Zeit überlebt hat. Dies alles gibt uns das Recht, uns noch immer im Bürgerkrieg zu fühlen. Daher die selbstverständliche Schlußfolgerung: Wenn der Feind sich nicht ergibt, wird er vernichtet.“ Nivat überläßt es dem deutschen Leser dieses Zitats, sich darauf zu besinnen, daß ein Berliner Theater, gelegen direkt neben Schinkels Neuer Wache und dem Haus der deutschen Geschichte, weiterhin stolz den Namen dieser stalinistischen Hofschranze trägt. 

Die von Nivat beklagte „Aufmerksamkeitslücke“ sowohl bezüglich der ukrainischen Hungerkatastrophe sowie des gesamten Gulag-Systems, die in den 1930ern entstand, sei in Europa damals nur an zwei Stellen notdürftig geschlossen worden, in Paris und Berlin, den traditionellen Hochburgen russischer Exilanten. In Paris erschien 1935 in kleiner Auflage „Stalin, Aperçu historique du bolschevisme“ (deutsch erst 1980: Stalin: Anmerkungen zur Geschichte des Bolschewismus“), verfaßt von dem oppositionellen Marxisten Boris Souvarine, der einer jüdisch-ukrainischen Familie entstammte. Zugleich kam, auf russisch in 118 Folgen in einer Pariser Exilzeitung publiziert, Iwan L. Solonewitschs Tatsachenbericht „Die Verlorenen“ heraus. Der Verfasser, einer der wenigen, denen die Flucht aus dem Straflager glückte, verarbeitete dafür auch Briefe der aus der Ukraine deportierten deutschstämmigen mennonitischen Bauern. Eine zweibändige deutsche Ausgabe erschien 1937/38, und der sichtliche erschütterte Reichs­propagandaminister Joseph Goebbels brachte den Eindruck seiner Lektüre auf den kürzesten Nenner: „Muß weg!“

Interesse an Stalins Verbrechen blieb gedämpft

Als das NS-Regime 1941 sich die Chance eröffnete, Goebbels diesen Wunsch zu erfüllen, und, wie Nivat fast staunend notiert, die Wehrmacht bei ihrem Einmarsch in die Ukraine „feierlich empfangen“ worden sei, wäre Adolf Hitler und seinen Wirtschaftsplanern wie Herbert Backe nichts Dümmeres eingefallen, als die Ukraine mit einem eigenen „Hungerplan“ zu terrorisieren, einem „Spiegelbild der von Stalin organisierten Hungersnot“. 

Ein politisches Versagen, das 1945 nicht wenig dazu beitrug, das westliche Interesse an Stalins Verbrechen zu dämpfen. Wie vor allem die Rezeption von Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ in der vom Geist der neuen Ostpolitik benebelten Bonner Republik beweise. Kein Wunder daher, daß die wissenschaftliche Pionierstudie eines US-Historikers, Robert Conquests „Ernte des Todes. Stalins Holocaust in der Ukraine“ (deutsch 1988), erst im Windschatten des „Historikerstreits“ den deutschen Buchmarkt erreichte. 

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