© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

Paris wollte primär eine Einhegung Deutschlands
Im April 1951 unterzeichneten die Bundesrepublik, Italien, Frankreich und die Benelux-Länder die Montanunion
MIchael Dienstbier

Selbst viele historisch interessierte Zeitgenossen stehen am 9. Mai eines jeden Jahres ratlos vor den feierlich beflaggten öffentlichen Gebäuden Deutschlands und rätseln über den Anlaß. Tatsächlich handelt es sich hierbei nicht, wie oftmals vermutet, um ein leicht verspätetes Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges. Seit 1986 ist der 9. Mai offizieller Europatag, an dem die Verkündigung des Schuman-Plans gefeiert wird, der heute als Gründungsmoment der Europäischen Union gilt. Das ist durchaus zutreffend, wobei jedoch die wahren Motive der Beteiligten gerade auf französischer Seite zugunsten eines weichgezeichneten gesamteuropäischen Familienidylls in Vergessenheit geraten sind.

Am 9. Mai 1950 verkündete der französische Außenminister Robert Schuman im Rahmen einer Regierungserklärung Revolutionäres. Ziel sei die Schaffung eines zollfreien gemeinsamen europäischen Marktes für Kohle und Stahl. Dieser solle durch die „Hohe Behörde“ verwaltet werden, ein supranationales Gremium, zu dessen Gunsten alle Mitgliedsstaaten auf Teile ihrer nationalen Souveränität zu verzichten bereit sein müßten. Nach knapp einjährigen Verhandlungen unterzeichneten am 18. April 1951 Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Länder in Paris die im Volksmund nur Montanunion genannte „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“. Erster Präsident der „Hohen Behörde“ wurde Jean Monnet, ein Geschäftsmann und Kopf des Schuman-Plans, der heute als „Gründervater Europas“ gilt.

Die Gründung der Montanunion läßt sich nur unter Berücksichtigung des sich verschärfenden Kalten Krieges verstehen und bewerten. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges war von einer gesamteuropäischen Rhetorik noch nichts zu hören. Gerade Frankreich trieb eine Politik der Zerschlagung deutscher Kohle- und Stahlkonzerne voran und setzte zudem durch, ab 1946 die deutsche Stahlproduktion auf 7,5 Millionen Tonnen im Jahr zu reduzieren. Noch das im Rahmen der Londoner Sechsmächtekonferenz am 28. April 1949 verabschiedete „Ruhrstatut“ bestimmte die alliierte Verwaltung – unter Ausschluß der Sowjetunion – der Kohle- und Stahlproduktion des Ruhrgebiets. Diese Politik war aus französischer Sicht nachvollziehbar, galt das Gebiet zwischen Dortmund und Duisburg doch als „Waffenschmiede des Dritten Reiches“. Schon 1923 besetzten die Franzosen das Ruhrgebiet, um direkten Zugriff auf diese für die Kriegswirtschaft so zentralen Ressourcen zu erlangen.

Es waren die Amerikaner, die die Franzosen zu einer Revision ihrer Politik gegenüber dem alten Erzfeind östlich des Rheins veranlaßten. Der Kalte Krieg war mittlerweile mit dem Koreakrieg in seine erste heiße Phase eingetreten, und eine Limitierung der deutschen Stahlproduktion entsprach nicht mehr den Interessen der USA. Die Franzosen standen nun vor der schweren Aufgabe – so der britische Historiker Ian Kershaw in seiner sehr lesenswerten Darstellung „Achterbahn: Europa 1950 bis heute“ –, das Ziel der Eindämmung Deutschlands und der Wiedererrichtung der eigenen politischen und ökonomischen Hegemonie in Europa unter den Bedingungen des Kalten Krieges zu realisieren. 

Schlüssel dazu blieb der Zugang zu den deutschen Kohlegebieten an Ruhr und Saar, und genau diesen strebten Monnet und Schuman mit ihrer Initiative an. Bei Konrad Adenauer rannten sie damit offene Türen ein. Schuman informierte den Bundeskanzler kurz vor jener legendären Erklärung im April 1950, und dieser stimmte sofort zu. Er sah die Montanunion als Mittel, seinem Ziel der Westbindung der Bundesrepublik ein Stück näher zu kommen, um in einem nächsten Schritt die volle staatliche Souveränität des Landes zu erlangen.

Verhinderung deutscher Hegemonie gescheitert

Die Montanunion hat die weitere Entwicklung in Europa maßgeblich beeinflußt. Kurzfristig trug sie wesentlich zum deutschen „Wirtschaftswunder“ bei, welches das Land nur ein Jahrzehnt nach der völligen Zerstörung zur ökonomischen Supermacht katapultierte. Dies hat sich bis heute nicht geändert, so daß Monnet und Schuman mit ihrem Ziel der Verhinderung einer erneuten deutschen Hegemonie gescheitert sind. Mittel- und langfristig hat sich das in der „Hohen Behörde“ angelegte supranationale Prinzip durchgesetzt. 1967 wurden im EG-Fusionsvertrag die Exekutivorgane der Montanunion, der Europäischen Atomgemeinschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Kommission zusammengelegt, einem direkten Vorläufer der heutigen EU-Kommission.

In der Feiertagsprosa der EU-Enthusiasten heißt es immer wieder, die Idee eines gemeinsamen Europas sei aus den Erfahrungen der Schützengräben des Ersten Weltkrieges oder gar den Vernichtungslagern des Zweiten entstanden. Das ist Teil eines omnipräsenten Mythos, der wenig mit den tatsächlichen Ursprüngen zu tun hat. Am Anfang standen zwei französische Patrioten und ein deutscher Kanzler, die einzig und allein ihre jeweiligen nationalen Interessen verfolgt haben. 

Dem Beginn der EU wohnt also auch ein gehöriges Maß nationalistischen Denkens inne, das jetzt seit gut 75 Jahren einen weiteren großen Krieg in Eu­ropa verhindert hat. Daran sollte sich auch das „Mehr Europa“-Milieu erinnern, welches offensiv die Abschaffung der Nationalstaaten zugunsten eines europäischen Superstaats vorantreibt.