© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

Mit vollem Risiko vor den Amerikanern
Vor sechzig Jahren flog der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin als erster Mensch ins All / Mehrere tödliche Fehlversuche vor ihm
Thomas Schäfer

Am Vormittag des 12. April 1961 unterbrach Radio Moskau sein Programm und der im ganzen Sowjetreich bekannte Nachrichtensprecher Juri Lewitan verlas mit pathetischer Stimme folgende Tass-Meldung: „Das erste Raumschiff der Welt, ‘Wostok’, ist heute von der Sowjetunion aus mit einem Menschen an Bord in einen Orbit über der Erde gestartet worden. Der Kosmonautenpilot des Raumschiffs ‘Wostok’ ist ein Bürger der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Fliegermajor Juri Alexejewitsch Gagarin.“

Gagarin war kein erfahrener Testpilot

Die Raumkapsel hatte 55 Minuten zuvor um genau 9 Uhr und 6 Minuten Moskauer Zeit ihre Reise ins All angetreten. Als Trägerrakete war dabei eine modifizierte militärische Interkontinentalrakete vom Typ R-7 (im Westen SS-6 Sapwood genannt) zum Einsatz gekommen. Diese fliegt noch heute in kaum veränderter Form unter dem Namen „Sojus“ und stellt eine Weiterentwicklung der Mittelstreckenrakete R-5 (SS-3 Shyster) dar, deren RD-103-Triebwerk wiederum auf dem Triebwerk der deutschen A4 (V2) basierte.

676 Sekunden nach dem Abheben von der Startrampe Nr. 1 des heutigen Kosmodroms Baikonur bei Tjuratam im Süden Kasachstans erreichte „Wostok 1“ die Erdumlaufbahn. Eine Stunde später zündeten dann die Bremsraketen des Raumschiffs, wonach die Landekapsel um 10.48 Uhr nahe dem Dorf Smelowka 26 Kilometer südwestlich der Stadt Engels in der Oblast Saratow an der Wolga niederging. Gagarin selbst hatte sich zuvor wie geplant in 7.000 Metern Höhe hinauskatapultiert und landete dann nach 106 Minuten Flugzeit deutlich sanfter als die kugelförmige Kapsel an seinem eigenen Fallschirm.

So lautet zumindest die offizielle Version der Sowjets, wobei die Uhrzeit der Rückkehr zur Erde damals irrtümlich mit 10.55 Uhr angegeben wurde. Allerdings kamen später Zweifel an der Darstellung Moskaus auf. Diese entzündeten sich vor allem an dem offenkundig manipulierten Bild- und Tonmaterial von dem Flug sowie widersprüchlichen Aussagen zu Details der Mission beziehungsweise Merkwürdigkeiten in der Biographie Gagarins. Der nur 1,57 Meter kleine erste Kosmonaut der UdSSR war beispielsweise kein erfahrener Testpilot wie die Astronauten der USA, sondern hatte lediglich 247 Flugstunden vorzuweisen, und die meisten davon nicht einmal auf Düsenmaschinen, sondern propellergetriebenen Schulflugzeugen! Dafür paßte Gagarins Herkunft als Sohn eines Kolchosenzimmerers und einer Melkerin aus der russichen Provinz ebenso perfekt in die sozialistische Heldenerzählung der Arbeiterklasse wie die Ausbildung zum Gießereitechniker vor seiner Armeezeit.

Darüber hinaus gab es bald auch Gerüchte, daß die Sowjetunion schon lange vor dem 12. April 1961 versucht hätte, Menschen ins All zu bringen. So vermeldete es im April 2001 schließlich sogar die Moskauer Tageszeitung Prawda, das einstmalige Parteiorgan der Kommunistischen Partei der Sowjetunion: Bis 1959 seien bei mißlungenen Starts zu suborbitalen Parabelflügen vom Raketentestgelände Kapustin Jar bei Astrachan am Kaspischen Meer die Kosmonauten Alexej Ledowski, Serenti Schaborin und Andrej Mitkow ums Leben gekommen. Anderen Quellen zufolge soll es um die elf Tote gegeben haben, bevor Gagarins Flug stattfand.

Auf jeden Fall barg auch die Mission von „Wostok 1“ erhebliche Risiken, welche man aber ganz offensichtlich bereit war, einzugehen. Schließlich standen die Vereinigten Staaten ebenfalls kurz davor, einen Menschen ins All zu entsenden. Die US-Weltraumbehörde Nasa hatte den Parabelflug ihres Astronauten Alan Shepard zunächst für den 25. April 1961 angekündigt, bevor sie ihn dann auf den 5. Mai verschob. Deshalb ignorierten die Verantwortlichen in der UdSSR den Umstand, daß vier der sieben unbemannten Testflüge des Raumschiffs „Wostok“ scheiterten – in zwei Fällen kam die Kapsel beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre von ihrer Flugbahn ab. Und technische Probleme in dieser kritischen Phase der Landung wurden auch Gagarin beinahe zum Verhängnis. „Genossen, ich brenne!“, schrie der Kosmonaut, als sich die Versorgungseinheit nicht von der Landekapsel lösen wollte, woraufhin das Raumschiff ins Trudeln geriet und zu verglühen drohte. Gagarin überlebte dies nur, weil die Reibungshitze schließlich die Verbindungselemente durchtrennte. Allerdings mußte er danach Beschleunigungskräfte von bis zu 10 G ertragen.

Erneute Düpierung spornte die US-Amerikaner an

Die Erdumkreisung Gagarins bescherte den USA eine Neuauflage des Sputnik-Schocks vom Oktober 1957 – daran änderten auch die offenen Fragen zu den genauen Umständen der sowjetischen Mission nichts. Gleichzeitig führte die erneute Düpierung durch die Russen dazu, daß Washington nun beschloß, das eigene Raumfahrtprogramm mit aller Macht zu forcieren. Ohne den Gagarin-Flug hätte US-Präsident John F. Kennedy also wohl kaum seine legendäre Rede vom 25. Mai 1961 gehalten, in der er ankündigte, die Vereinigten Staaten würden sich ab sofort „dem Ziel widmen (...), noch vor Ende dieses Jahrzehnts einen Menschen auf dem Mond landen zu lassen und ihn wieder sicher zur Erde zurückzubringen“. Damit begannen die USA ihre Aufholjagd im kosmischen Wettlauf der Systeme während des Kalten Krieges, welchen es schließlich triumphal gewann, als Neil Armstrong am 21. Juli 1969 den Fuß auf die Mondoberfläche setzte und dann drei Tage später unversehrt im Pazifik landete.