© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

„Als Entschuldigung taugt das nicht“
Anatol Regnier urteilt streng über das Verhalten von Schriftstellern im Dritten Reich
Günter Scholdt

Anatol Regnier, Gitarrist und Sohn eines berühmten Schauspielers, hat über die Generation seiner Eltern ein weiteres Buch verfaßt. Betraf das erste aus der Sicht von Nachgeborenen vor allem Prominente und Besucher am Starnberger See, erweiterte er nun die Perspektive generell auf „Schriftsteller im Nationalsozialismus“. Regnier formuliert flüssig und hat einen Sektor des fast unübersehbaren Stoffs anschaulich präsentiert. Er nutzt dabei die spätestens seit Kempowski bewährte dokumentarische Methode, kombiniert effektvoll Brief- oder Protokollzitate mit biographisch-politischen Erläuterungen und zieht daraus seine lakonischen Pointen. Auch Schlüsselloch-Blicke aufs Intimleben fehlen nicht gemäß heute gängigen Leser-Erwartungen. Das erlaubt zugleich, Politurteile mit solchen der Sexualmoral zu verquicken und etwa die Seitensprünge der im Reich Gebliebenen deutlich bissiger zu kommentieren als die Emigrierter.

Das Fazit fällt ernüchternd aus: Mit Beginn der NS-Herrschaft kuschen fast alle. Kollegiale Solidarität, die bei Schriftstellern ohnehin unterentwickelt ist, erlischt unter Drohungen schnell. Hehre Bekundungen von „Rittern des Geistes“ in honorigen Funktionen versanden zu Phrasen. Der Kampf um die Futterkrippen des Literaturmarkts ist brutal. Wer in der Diktatur schreiben will, zahlt in der Regel seinen Anpassungstribut. Und selbst Regimeferne sehen sich bei ideologischen Angriffen nach Fürsprechern im Regierungslager um, wie etwa Gottfried Benn, dem SS-Führer Hanns Johst mehrfach aus der Patsche half. Kurz: Es verläuft – was Regnier allerdings verschweigt – ein wenig wie heute, nur schlimmer oder gefährlicher. Ansonsten paßt die Faustformel: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ 

Die Feststellung der Misere wirkt nicht eben originell. Doch Regnier beansprucht darüber hinaus, die Dinge mit größerer „Unvoreingenommenheit“ ohne „Scheuklappen“ zu betrachten. Sonst fördere man wenig Neues zutage. Stimmt. Aber was ist für Kenner denn neu? Mancher Quellenfund und einige Fragen zu menschlichen Konfliktlagen. Doch die Antworten bleiben – vom Fall Agnes Miegel abgesehen – meist in den Grenzen des Mainstreams. Schließlich braucht es, um darüber hinauszugelangen, etwas mehr Freimut und Hintergrundwissen. Einige Forschungsmonate in Marbach und die Konzentration auf die Mitglieder der „Preußischen Akademie der Künste“, die übrigens zu keiner Zeit das damalige literarische Leben adäquat repräsentierten, genügen nicht. Allein die Behandlung der Brüder Jünger, die Regnier glücklicherweise unterließ, hätte sein Beurteilungsschema gesprengt.

Auch die im Vorwort suggerierte spezifische Aktualität des Buches verrät Befangenheit, die einer innovativen Analyse im Wege steht. Denn angeblich lassen rechtsextremistische Umtriebe neuerdings befürchten, wir hätten „aus der Vergangenheit nichts gelernt“, wo doch massive Freiheits-Verheerungen tatsächlich aus ganz anderer Richtung rühren. Und wer Parallelen zur Gegenwart zieht, tue dies bitte nicht ohne Hinweis auf die seit langem konformistischsten Intellektuellen, Wissenschaftler oder Hofkomödianten, die täglich peinlichst ignorieren, wie eine Demokratur Meinungsfreiheit und Grundrechte in Frage stellt. 

Stattdessen schließt der Band mit einem Lob der „Reise“ von Bernward Vesper. Übersehen wird dabei, daß nicht nur dessen Nazi-Vater, sondern der bis heute verklärte 68er-„Antifaschismus“ dafür sorgten, daß ein Leben im Terrorismus endete. 

Kommen wir zu wenigen fraglichen Ergebnissen und methodischen Schwächen, die dadurch nicht kleiner werden, daß sie gängiger Zeitgeist-Philologie entsprechen. Regnier unterwirft alle Autoren dem gleichen Urteilsschema: unpolitische, die lediglich weiter ihren Schriftstellerberuf ausüben wollten, oppositionelle, die sich tarnen mußten, und überzeugte NS-Literaten. Will Vesper, Hanns Johst und Co. waren jedoch echte Parteigänger, die sich 1933 nicht zu verbiegen brauchten. Auch Benns NS-Statements zu Beginn des Regimes belegen keine „Profilneurose“, sondern den kurzen illusionären Rausch, eine epochale Wende zu erleben, die Opfer erfordere – ein Gefühl also, das abertausend Literaten ganz Europas ähnlich beherrschte, als sie sich einer gewiß nicht weniger blutigen Sowjet-Utopie verschrieben. 

Schriftsteller im Exil erfahren kaum Kritik 

Doch dafür interessiert sich der Verfasser ebensowenig wie für Wirtschaftskrisen, Weimarer Bürgerkrieg oder das Trauma Versailles, die manche ins nationalkonservative Lager trieb und aus scheinbarer Interessengemeinschaft ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus (zunächst) schwächte. Er preist beim Exilanten Lion Feuchtwanger die „unheimliche Klarheit“ seiner „Geschwister Oppermann“; kein Wort über dessen weltweit verbreitete skandalöse Stalin-Apologie. Und über Klaus Manns Moskau-Besuch lesen wir, diplomatisch gedämpft, nur vom „Übersehen moralisch-künstlerischer Defizite im Sowjetreich“. Mehr Kritik an Exil-Ikonen findet nicht statt, obwohl einige der zitierten Dokumente verraten, wie wenig prinzipienstark sich die zur Flucht gezwungenen Autoren anfangs verhielten. Gleichwohl gelten sie im Kapitel „Die große Kontroverse“ fraglos als moralisch überlegen gegenüber den Daheimgeblieben, die vielfach hart kritisiert werden. 

„Hier hatte jemand konsequent weggeschaut und sich ganz aufs Private und die Natur zurückzuziehen versucht“, heißt es zum Beispiel über Hans Fallada. Zwar bat Verleger Fischer Otto Flake, eine Ergebenheitsadresse ans neue System zu signieren. Regnier stellt jedoch klar: „Als Entschuldigung taugt das nicht.“ Und weiter in diesem Ton: „Warum Benn sich so weit aus dem Fenster lehnt, weiß nur er selber. Er zahlt einen hohen Preis.“ Daß derselbe Autor schon bald auf Gegenkurs ging und sein Privatdruck von 1943 lebensgefährliche Tiraden gegen das Regime enthielt, wird dem Leser vorenthalten, wie literarische Opposition auch sonst kaum vorkommt. 

Bei Heinrich Wolfgang Seidel sieht er nur „hilfloses Sich-Wegducken“, um den eigenen inneren Frieden zu retten. Und dann wird’s fast zynisch: „Wie geht es Erich Kästner? Nach Karten und Briefen an seine Mutter zu urteilen ausgezeichnet. Er hat eine schöne Dreizimmerwohnung in Kurfürstendammnähe …“ Auch ein hohes Filmhonorar zeugt scheinbar gegen ihn. Schließlich der Kommentar: „Ina Seidel liest Zeitung, hört Radio“, trotzdem schreibe sie eine Hitler-Eloge. „Warum tut sie das?“ 

Ja, warum? Genau diesem Problem hätte sich der Autor eingehender widmen müssen, jenseits der Erklärung individuellen Versagens. Desgleichen der Frage, ob zahlreiche Meisterwerke der Andres, Kasack, Bergengruen, Thieß, Benn, Fallada, Hartlaub, Hauptmann, Ernst und Friedrich Georg Jünger, Klepper, Loerke, Schneider, Vegesack, Wiechert, Britting oder Eugen Roth, darunter veritable Jahrhundert-Gedichte, nicht vielleicht ein paar allgemeine Lippenbekenntnisse kompensieren, solange man sich von der Legitimation mörderischer NS-Ziele fernhielt. 

Auch fehlt im Buch die Gegenbilanz einer Hundertschaft nicht nur literarischer Widerstandstaten. Daher profitiert von seiner Lektüre nur wirklich, wer sich von etlichen seiner Urteile freimacht, gemäß der Devise: Jeder werte für sich allein.

Anatol Regnier: Jeder schreibt für sich allein. Schriftsteller im Nationalsozialismus. Verlag C.H. Beck, München 2020, gebunden, 366 Seiten, 26 Euro