© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/21 / 09. April 2021

Nur ein bißchen grüner soll alles werden
Linke Kritik an der „Chimäre Klimaneutralität 2050“ / Ursachen Kapitalismus, Wachstum und Konsum?
Christoph Keller

Trotz Corona-Krise sowie der unabsehbaren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen werden beim Fetisch CO2-Ausstoß bislang keine Abstriche gemacht: Die EU, Großbritannien, Kanada, Japan und Südkorea versprechen, bis 2050 als erste das Ziel der UN-Kampagne „Race to Zero“ zu erreichen. Die USA unter Joe Biden versprechen ebenfalls bis dahin „Klimaneutralität“. Die Endzeit-Sekte Extinction Rebellion fordert das bis 2025.

Die gymnasialen „Fridays for Future“-Schulschwänzer propagieren 2035, was für manche grüne Paniker die fahrlässige Inkaufnahme des Weltuntergangs ist. Aber im Vergleich mit der Volksrepublik China, die frühestens 2060 keine CO2-Emissionen ohne Kompensation mehr gestatten will, liegen die westlich orientierten Demokratien gut im „Rennen hin zur Netto-Null“.

„Verkündungen hehrer Ziele“

Neun Monate nach dem UN-Startschuß, lese sich, wie der weit links stehende Umweltjournalist Guido Speckmann staunt, die Unterstützerliste für weltweite Treibhausgasneutralität wirklich beeindruckend (Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/21). Nicht weniger als 120 Länder, 23 Regionen, 454 Städte, 1.397 Firmen, vom Konzern bis zum Mittelständler, 74 der größten Investoren und 569 Universitäten hätten sich der UN-Initiative begeistert angeschlossen. Zusammen decken diese Akteure fast 25 Prozent der globalen Kohlenstoffemissionen und stolze 50 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts ab.

Rodong Sinmun, das Zentralorgan der nordkoreanischen Staatspartei, hätte es nicht begeisterter formulieren können. Bei soviel Rückhalt müsse im November, auf der nächsten UN-Klimakonferenz in Glasgow (COP 26), eigentlich nur noch die Feinabstimmung in Form der Festlegung verbindlicher Zwischenziele erfolgen. Das hört sich für Speckmann „in der Tat gut an“. Doch solle man stets im Gedächtnis behalten, daß die Geschichte der globalen Klimapolitik fast identisch sei mit einer Abfolge von „Verkündungen hehrer Ziele“, die nie erreicht worden seien.

Für den 42jährigen Ex-Redakteur des Neuen Deutschlands resultiert dieses Versagen nicht aus dem grottenschlechten UN-Management und dessen Unfähigkeit, realistische Planvorgaben zu machen. Wie sich an dem ehrgeizigen Projekt „Klimaneutralität 2050“ in drastischer Anschaulichkeit zeige, tauge vielmehr das ganze, auf das Pariser Klimaabkommen fixierte Instrumentarium nicht, die Erderwärmung zu stoppen. Denn die scheinbare Patentlösung, Emissionen im globalen Norden dadurch zu reduzieren, daß man sie im globalen Süden kompensiert, erweise sich in Wahrheit als „Chimäre“.

Was schnell klar werde, wenn man sich diesen Gleichgewichtsmechanismus plausibel mache: Wer von Frankfurt nach New York fliegt, zahlt etwa über Atmosfair.de den Ablaß für diese Umweltsünde, indem er Aufforstungen im Regenwald finanziert. Doch wer kann sich diese Kompensation anrechnen? Die Lufthansa und damit Deutschland, wo die Fluglinie ihren Sitz hat? Oder Brasilien, das die Aufforstung durchführt? Diese Fragen zu stellen, heiße die Gefahr von Doppelzählungen erkennen. Und: Ist gewährleistet, daß die gepflanzten Bäume für hundert Jahre, der Verweildauer von Kohlenstoff in der Atmosphäre, einen Rodungsschutz genießen? Kollidieren viele Aufforstungen nicht mit der Landnutzung von „Indigenen“?

Noch fragwürdiger werde die Rechnerei mit CO2-Zu- und Abflüssen, wenn man sie am Kriterium „Zusätzlichkeit“ messe. Damit ist das Phänomen der Millionen von Zertifikaten gemeint, die für begonnene Klimaschutzprojekte in russischen und ukrainischen Wäldern kompensatorisch erworben werden können, ohne daß dadurch noch ein Baum zusätzlich gepflanzt würde. Eine Studie des Freiburger Öko-Instituts kam zu dem Ergebnis, daß zwischen 2013 und 2020 73 Prozent des potentiellen Angebots an zertifizierten Emissionsreduktionen eine geringe Wahrscheinlichkeit der Zusätzlichkeit aufweisen.

Ziel ist die Aufhebung des Wohlstandsgefälles

„Emissionen kompensieren“ laufe daher nicht nur vielfach ins Leere, es habe oft auch gegenteilige Effekte. Zum einen, weil große Konzerne und mächtige Staaten sich das Recht, die Umwelt zu verschmutzen, günstig erkaufen und weitermachen können wie bisher. An den gesundheitsschädigenden Folgen der Luftverschmutzung ändere sich nichts, die würden laut Weltgesundheitsorganisation WHO zwischen 4,2 und 8,7 Millionen Menschen mit ihrem Leben bezahlen. Zum anderen setzen Kompensationsprojekte eine globale soziale Spaltung voraus, unterschiedliche Niveaus bei Industrialisierung, Energieverbrauch und Entwicklung. Wer Kohlenstoff im Norden reduzieren will, indem er im Süden kompensiert, könne darum an der Aufhebung des Wohlstandsgefälles zwischen Industrie- und Entwicklungsländern nicht interessiert sein, denn nur der Status quo garantiere, daß das Kompensationspotential der natürlichen Kohlenstoffsenken, der Moore und Wälder des Südens, dort nicht durch forcierte Industrialisierung abnimmt.

Für noch ungeeigneter als die Praxis des Kompensierens hält Speckmann andere Verfahren, Klimaneutralität herzustellen. Etwa das Carbon Capture and Storage (CCS), das Abscheiden und Speichern von CO2 in unterirdischen Lagerstätten. Denn CCS sei im großen Stil nicht anwendbar, da es hohen Energieeinsatz erfordere, der womöglich aus fossilen Quellen stamme. Zudem sei weder sicher, daß der Kohlenstoff auf Dauer gespeichert werden könne, noch erlaube es der Stand der Technik, die Gefahr von Leckagen auszuschließen.

Ähnlich unbetretbar dürften wohl andere CO2-Minderungspfade sein wie die Düngung der Ozeane oder Bioenergie-CCS (BECCS). Dazu werden schnell wachsende Pflanzen angebaut, die der Atmosphäre CO2 entziehen. Durch deren Verbrennung kann dann Energie gewonnen werden. Das dabei freigesetzte CO2 könne ebenfalls permanent gespeichert werden. Chinaschilf, Eukalyptus, Pappeln oder Weiden verlangen aber viel Fläche, verschlingen enorme Wassermengen, dezimieren die Artenvielfalt und gehen zu Lasten der Lebensmittelproduktion für die bis 2050 auf 9,7 Milliarden angewachsene Menschheit.

Die „Schlupflöcher“ Kompensation, CCS & Co. böten lediglich die Chance, sich von CO2-Reduktion freizukaufen. Unterm Strich sei Netto-Null nichts als „Greenwashing“. „Klimaneutralität“, ein Ideologiebegriff des auf „Marktlösungen setzenden neoliberalen Umweltmanagements“, verschleiere, daß es mit Wachstum, Kapitalismus und Konsum weitergehe wie gehabt – „nur ein bißchen grüner soll alles werden“. Vielleicht lasse sich so das westliche Wohlstandsmodell noch eine Weile konservieren.

Das „Race to Zero“ gewinne man hingegen nur durch „drastische Verringerung der Wirtschaftstätigkeit und des Umweltverbrauchs“. Das westliche „Konsumlevel“, so bringt Speckmann die sich epidemisch ausbreitende Gleichheitsutopie auf den Punkt, müsse soweit sinken, bis es auf einem Niveau ankomme, „das allen Menschen ein Leben ohne Armut“ ermögliche.

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 www.atmosfair.de