© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/21 / 16. April 2021

Eine Selbstaufgabe
Corona-Politik: Die Machtanhäufung der Bundesregierung ist verfassungsrechtlich fragwürdig
Michael Paulwitz

Das „am tiefsten in die Grundrechte einschneidende Bundesgesetz der letzten Jahrzehnte“ – so nennen Richter Jens Gnisa, bis 2019 Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, und das „Netzwerk Kritischer Richter und Staatsanwälte“ die geplante Ergänzung des Infektionsschutzgesetzes. Gemessen an der Tragweite des Paragraphen 28 b, der auf Wunsch und Druck der Bundeskanzlerin im Eiltempo durch Bundestag und Bundesrat beschlossen werden soll, ist der bislang lautgewordene Widerspruch erstaunlich vereinzelt und zaghaft.

Tritt die Novelle in Kraft, liegt die Verhängung von „Lockdowns“ einer bislang nicht dagewesenen Härte und Rücksichtslosigkeit allein in den Händen der Bundesregierung – eine zentralistische Machtkonzentration, die rigoros mit der föderalen Machtbalance der politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland bricht.

Überschreitet in einem Kreis der „Inzidenzwert“ die Marke von einhundert „Infizierten“ pro hunderttausend Einwohnern binnen sieben Tagen – und das betrifft aktuell mehr als zwei Drittel der rund vierhundert Stadt- und Landkreise –, sollen automatisch nächtliche Ausgangssperren, rigide Kontaktbeschränkungen, umfassende Zwangsschließungen von Handel und Gewerbe und umfangreiche Testpflichten in Kraft treten; bei mehr als 200 „Infizierten“ müssen auch Schulen und Kindergärten ohne Diskussion zugesperrt werden.

Landesregierungen, Landräten und Bürgermeistern nimmt dieser Automatismus die Möglichkeit zu differenziertem und lageangepaßtem Handeln. Den Bürgern macht das Damoklesschwert des Lockdowns, der jederzeit auf sie niedergehen kann, jede vorausschauende Lebensplanung unmöglich. Auch die Anrufung der Amts- und Verwaltungsgerichte gegen die massive Einschränkung ihrer Grundrechte ist ihnen verwehrt; da es sich um ein Bundesgesetz handelt, bleibt nur der unsichere und langwierige Gang nach Karlsruhe.

Damit nicht genug, wird die Bundesregierung auch noch „ermächtigt“ – wieder fällt das belastete Stichwort –, zur „einheitlichen Festsetzung von Corona-Maßnahmen Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates zu erlassen“. Stimmt der Bundestag dem zu, hat er sich selbst kastriert. Der in der Gesetzesvorlage angeschlagene Ton ist arrogant und obrigkeitsstaatlich: Ausgangssperren seine keine „Freiheitsentziehung“, sondern „lediglich“ eine „Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit zu regelmäßigen Ruhens- und Schlafenszeiten“. Ein Schuft, der spazierengehen möchte, wenn die Kanzlerin zu Bette geht.

Verfassungsrechtlich bedenklich ist nicht an sich, wenn der Bund Kompetenzen zur Krisenbewältigung an sich zieht. Staatsstreich-Assoziationen kommen auf, wenn die dafür erforderlichen parlamentarischen Verfahren und gesellschaftlichen Debatten „alternativlos“ abgewürgt, zusammengestrichen und vor dem Hintergrund einer moralisierenden Droh- und Panikkulisse zur formalistischen Fassade degradiert werden.

Die Kompetenzen, die die Kanzlerin dabei an sich ziehen will, gehen weit über das hinaus, was als angemessen oder verhältnismäßig gelten kann. Die Lockdown-Politik, die die Kanzlerin künftig aus eigener Machtvollkommenheit ohne lästige Debatten, parlamentarische und föderale Einsprüche führen möchte, stellt alle Bürger – und nicht bloß tatsächlich Erkrankte – als potentielle Infektionsherde unter Pauschalverdacht und leitet daraus die Rechtfertigung ab, ihre Grundrechte dauerhaft und massiv einzuschränken.

Für den Staatsrechtler Ulrich Vosgerau ist das ein „verfassungsrechtlich nicht geregelter Ausnahmezustand“, in dem wir uns faktisch schon seit gut einem Jahr befinden. Eine Notstandsgesetzgebung verlangt eine Verfassungsänderung mit entsprechenden Mehrheiten und gesellschaftlichen Konsensfindungen, die bislang aus guten, auch historischen, Gründen nicht zustande gekommen ist. Die Novelle des Infektionsschutzgesetzes zielt darauf, diese Notstandsgesetzgebung durch die Hintertür auf einfachgesetzlichem Wege im Schweinsgalopp durchzudrücken.

Merkel macht aus ihrem eiskalten Kalkül keinen Hehl. Weil die Ministerpräsidenten nicht so wollen wie sie, werden sie entmachtet. Weil Verwaltungsgerichte verschiedentlich pauschale Ausgangssperren und andere überzogene Maßnahmen als unwirksam und unverhältnismäßig verworfen haben, werden sie durch Bundesgesetzgebung ausgebremst. Mit „Nichtachtung der Justiz“ ist dieses Manöver noch zurückhaltend beschrieben.

Die Grundlagen der Infektionsschutz-Notstandsgesetzgebung halten einer kritischen Überprüfung kaum stand. Der „Inzidenzwert“ ist ohne Rückkoppelung an Testquoten, Impf- und Positivrate eine untaugliche und willkürlich manipulierbare Größe. Die massiv ausgeweiteten Testpflichten werden den Wert weiter nach oben treiben, um die Fiktion einer „dritten Welle“ aufrechtzuerhalten.

Die vielbeschworene Überlastung der Intensivstationen gab es auch schon während gewöhnlicher Grippewellen, ohne daß zuvor Kapazitäten massiv reduziert worden wären. Die Milliarden, die für Masken, Schnelltests und Lockdown-„Hilfen“ verbrannt werden, wären für die Korrektur medizinpolitischer Fehlsteuerungen besser ausgegeben gewesen. In Großbritannien und Dutzenden US-Bundesstaaten fallen nach erfolgreichen Impfkampagnen derweil die Beschränkungen, während im Impfdebakelland Deutschland schon die Parole Lockdown bis Mitte Juni ausgegeben wird.

Merkels Notstandsgesetze dienen nicht dem Schutz der Bürger, sondern dem Schutz ihrer Macht vor der überfälligen Diskussion dieser drängenden Fragen. Sie sind der leicht durchschaubare abermalige Versuch, eine selbstverschärfte Krise zur Deformation bewährter Institutionen zu mißbrauchen. Lassen Parlament und Bundesländer diese Selbstentmächtigung mit sich machen, haben sie eine historische Bewährungsprobe nicht bestanden.