© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/21 / 16. April 2021

Zerrieben und zerkriegt
Kanzlerkandidat der Union: Die Erblasten von Kanzlerin Merkel wiegen schwer
Werner J. Patzelt

So hätte es sein können: Schockiert durch große Verluste bei den Landtagswahlen von 2016 machte sich die CDU an eine gründliche Suche nach den Ursachen. Die fand man in der Eurozonenpolitik, der Migrationspolitik und dem alternativlosen Mittigkeitslust der Parteigranden. Nach weiteren ernüchternden Erlebnissen im Wahljahr 2017 führte die Parteivorsitzende eine Grundsatzdebatte herbei und trat, nachdem sie einen den Neubeginn verkörpernden Nachfolger aufgebaut hatte, von ihren Partei- und Staatsämtern zurück.

Seit 2019 wurde dann ein Kurs gesteuert, auf dem man die frühere Unionsdominanz von der politischen Mitte bis zu den Quellgründen jenes Rechtspopulismus wiedererlangte, den man leichtfertig, auch zum Nachteil für Land und Partei, sich selbst überlassen hatte. Unangefochten und ohne Richtungs- oder Kandidatenstreit ging man deshalb 2021 in den Bundestagswahlkampf.

Doch statt so zu handeln, träumte man sich in der Unionsführung Folgendes zurecht: Die vielen, seit 2015 an die AfD verlorenen CDU-Wähler würden durch eine strikte Abgrenzung von ihrer Partei teils zurückgewonnen, teils zu Nichtwählern gemacht. Letzteres stärke die Union, nämlich prozentual. Und neue Wähler gewinne man in der sich wandelnden Bevölkerung dadurch, daß man – nach den Sozialdemokraten – nun auch den Grünen ihre Themen und Argumente abjage. Als Liebling deutscher Medienleute bahne dann Angela Merkel ihrer getreuen Nachfolgerschaft die Siegerstraße ins Kanzleramt.

Schäume waren solche Träume. Jetzt befürchtet die Union sogar den Verlust der Regierungsmacht im Bund. Zerrieben hat sich die CDU bei der Durchsetzung eines solchen neuen Bundesvorsitzenden, der gerade nicht für einen Neubeginn stehen sollte. Zerkriegt hat sich die Partei beim die Wirklichkeit meidenden Streit über die Ursachen ihres Niedergangs. Zerstritten hat sich die CDU mit der CSU über die Frage, wer wie vielen Mandatsträgern ihre Pfründe wirklich sichern kann. Und erstaunt gibt sich das CDU-Establishment ob des demoskopischen Befunds, daß nur ein kleiner Teil der Deutschen dem CDU-Chef auch die Kanzlerschaft zutraut, doch ein viel größerer Teil dem Charme eines politisch begnadeten Franken einst üblen Rufs erliegt.

Obendrein gewinnen die ehedem so abschreckend zerstrittenen Grünen beim politischen Schönheitswettbewerb – und hämt die SPD, ausgerechnet die Union gefährde Deutschlands Regierungsfähigkeit. Derweil läßt die Kanzlerin wissen, sie gehe das alles nichts mehr an; außerdem sei sie bis zum Herbst vollauf mit alternativlos-sachlichem Regieren beschäftigt.

Für Arnim Laschet wäre es der politische Todeskuß gewesen, hätte nicht die CDU-Führung seine Kandidatur unterstützt. Zum politisch Untoten wird er dennoch, wenn sich die CSU mit Markus Söder durchsetzt. Zwar wurde dessen wie unaufhaltsam erscheinender Aufstieg durch Laschets wirkungsvolles Netzwerken aufgehalten. Doch Söders rhetorisch vergoldetes Charisma läßt sich allein durch Machttechnik nicht ersetzen. Vielleicht wäre es sogar vernünftig, wieder einmal einen CSU-Chef die Bundestagswahl verlieren zu lassen – und dann, wie Kohl und Merkel, für schmerzliche Tage des Zurücksteckens mit langjähriger Kanzlerschaft gratifiziert zu werden. Ist die CDU aber wirklich so verzweifelt, daß Laschet sich auf ein solches Glücksspiel einließe? 

Söder jedenfalls vergibt sich nichts, wenn er kein Kanzlerkandidat wird. Mit staatsmännischer Miene geruhte er, im Fall eines Hilferufs den Anführer auch für die viel größere Schwesterpartei zu geben. Schlägt die sein Angebot aus und büßt im Herbst viele Stimmen ein, dann liegt die Schuld gewiß nicht bei ihm. Verliert hingegen ein Kanzlerkandidat Söder, so bleibt er eben in Bayern, und zwar als angesehener Ministerpräsident wie einst Strauß und Stoiber. Während der kommenden Monate könnte er sich dann klammheimlich über jede Journalistenfrage danach freuen, ob Laschet – wie einst Kohl – wohl auch als Oppositionsführer nach Berlin ginge.

Sich da bedeckt zu halten, bekam unter ähnlichen Umständen schon jenem Norbert Röttgen schlecht, der lange als „Muttis Klügster“ galt. Im übrigen hoffen nun viele von denen in der CDU, die dem vermiedenen Kurswechsel mit Friedrich Merz nachtrauern, sie könnten – nach dem solidarischen Mittragen einer scheiternden Kanzlerkandidatur – ab dem Herbst die Gelegenheit nutzen, die dann offensichtlich heruntergewirtschaftete CDU neu aufzustellen.

Daß den Freunden der CDU solche Albträume auch tagsüber kommen, liegt an der üblen Lage dieser Partei. Nach rechts hat sie unwiederbringlich so viele Stimmen an die AfD verloren, wie sich aus der Sympathisantenschaft der Grünen niemals neu gewinnen lassen. Deshalb muß die CDU im Herbst wenn schon nicht in die Opposition, so doch ins Regierungsbündnis mit den Grünen.

In ihm wird sie aber angreifbarer sein denn je – zumal seitens einer solchen AfD, die nicht nur ein normales Deutschland wollte, sondern sich obendrein als eine normale Partei aufstellte. Alle diese Qualen der Union beim Finden eines siegverheißenden Anführers und eines nicht weiter nach unten führenden Kurses gehören zu den Erblasten Angela Merkels. Die empfanden zwar viele als eine „gute Bundesmutti“. Doch für ihre Partei war sie eine freundlich-kühle Stiefmutter, die das Gefährt ihrer Familie beim „Fahren auf Sicht“ in eine Sackgasse steuerte.






Werner J. Patzelt ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Politikwissenschaft an der TU Dresden.