© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/21 / 16. April 2021

Nur zu Beginn gibt’s hundert Prozent
Parteitag: Die AfD beschließt ein Wahlprogramm, das in Teilen schärfer ist als der Entwurf / Frage der Spitzenkandidaten bleibt offen
Christian Vollradt

Als auf den Monitoren das Ergebnis eingeblendet wurde, ging ein Raunen durch die Messehalle: 50 Prozent Für- und 50 Prozent Gegenstimmen. Exakt. Ein kurzer Moment, aber symptomatisch für andere auf diesem 12. Bundesparteitag der AfD. Viele Abstimmungen wurden mit knappen Mehrheiten gewonnen, oft waren wenige Stimmen das Zünglein an der Waage. Daß es bei dem 50:50-Patt nicht blieb, lag an einem defekten Stimmgerät. 

Bei der fraglichen Abstimmung ging es um einen Änderungsantrag zum Wahlprogramm für die Bundestagswahl im September, zu dessen Verabschiedung die Partei am vergangenen Wochenende in Dresden zusammengekommen war. Der Antragsteller, der sachsen-anhaltische Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider, hatte die Forderung nach einer Liberalisierung des Waffenrechts eingebracht. Ihm seien mehrere AfD-Politiker bekannt, die vergeblich einen Waffenschein beantragt hätten. Dabei sei kaum jemand so durch Angriffe auf Leib und Leben gefährdet wie sie. Bevor die Abstimmung wiederholt werden mußte, meldete sich der Berliner Bundestagsabgeordnete Götz Frömming zu Wort und warnte vor einer fatalen Außenwirkung dieser Forderung. Was daraus gemacht werde, sei nur, „daß man sagen wird, die AfD will sich selbst bewaffnen“. Die Mahnung wirkte: Eine deutliche Mehrheit lehnte den Antrag schließlich ab.

In anderen Fällen verfingen ähnliche Hinweise nicht. Oder erst nach vehementer Intervention. So wie beim zunächst beschlossenen und dann – nach scharfer Kritik durch die stellvertretende Parteivorsitzende Beatrix von Storch – wieder gestrichenen Null-Zuwanderungs-Moratorium. An anderer Stelle verschärften die Delegierten den ursprünglichen Entwurf der Programmkommission. So votierten sie für den Stopp des Familiennachzugs für Flüchtlinge. Gegner des Antrags argumentierten, die AfD sei die Partei der Familie, und im Falle einer solchen Regelung könnten verfolgte Christen, die nach Deutschland fliehen, ihre Frauen und Kinder nicht mehr nachholen.  

Im Gespräch am Rande des Parteitags bedauerte ein Delegierter, daß häufig die verbalen Scharfmacher mehr Beifall bekämen als die, die maßvoller und „realpolitisch“ argumentierten. Dabei, bestätigt ein anderer diese Beobachtung, mache man das Wahlprogramm doch nicht für die eigenen Mitglieder, sondern um für möglichst viele attraktiv zu sein. 

Als es um die in früheren Programmdebatten abgelehnte Forderung nach einem Austritt Deutschlands aus der EU ging, verfingen weder die Einwände von Parteichef Jörg Meuthen noch die des Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland, der die „Sorge der anderen Europäer vor einem erneuten deutschen Sonderweg“ anmahnte. Eine klare Mehrheit stimmte pro „Dexit“. Immerhin plädiert die AfD in ihrem Wahlprogramm für die Gründung einer alternativen „europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft“. Eine andere, den Leitantrag verschärfende Forderung lehnte die Mehrheit der Delegierten ab, nämlich den Verfassungsschutz ganz abzuschaffen.

Einmütigkeit herrschte in der Messehalle am Elbufer zu Beginn des Parteitags. Da wurden den Delegierten die Werbespots der AfD für den Bundestagswahlkampf vorgeführt. Gemessen am Applaus lag die Zustimmung für die Kampagne unter dem Motto „Deutschland. Aber normal“ bei hundert Prozent. Sehr häufig hätten Bürger in Gesprächen an Informationsständen der Partei die Formulierung „… das ist doch alles nicht mehr normal“ verwendet, wenn es um aktuelle Zustände in Deutschland ging. 

Bundesvorstand ist zu passiv, monieren Kritiker

„Die Menschen haben eine tiefe Sehnsucht nach Normalität“, ist sich Meuthen sicher, und diesem berechtigten Grundgefühl wolle die Partei Ausdruck verleihen. Mit dem Slogan „Mein Unternehmen ist nicht im Dax, sondern in Deutschland“ präsentiere sich die AfD beispielsweise als die Partei des Mittelstands und der Handwerker, ergänzte der Co-Vorsitzende Tino Chrupalla.

Thüringens Partei- und Fraktionschef Björn Höcke hatte sich offenbar die Kritik seiner Mitstreiter, beim vorherigen Parteitag bloß geschwiegen zu haben, zu Herzen genommen. In Dresden war er erstaunlich oft am Saalmikrofon zu vernehmen. Und obwohl er sich längst nicht mit jedem seiner Vorstöße durchsetzen konnte, werten viele den Parteitag als Erfolg für ihn. Sein Gefolgsmann Jürgen Pohl, Bundestagsabgeordneter und einer der heftigsten Kritiker Meuthens, brachte es auf die Formel „Thüringen ganz groß! Danke, Björn!“ Und auch für den stellvertretenden niedersächsischen Landesvorsitzenden Stephan Bothe ist Höcke „der Mann des Wochenendes“. 

Dem stimmen nicht wenige Gegner des aufgelösten „Flügels“ zu – wenn auch zerknirscht. „Fatal“ sei der Parteitag im Ergebnis, ist eine nicht selten zu hörende Einschätzung. Das „Flügel“-nahe Milieu habe seine Agenda rücksichtslos durchgedrückt, meinte ein sichtlich frustrierter westdeutscher AfD-Politiker. „Das ist ein Menetekel für die gesamte Partei“. Der sich besonders negativ auswirkende Dexit-Beschluß habe bewiesen, daß auch Gaulands Autorität geschrumpft sei, ist sich ein Parteifunktionär sicher. Ein anderer Delegierter meinte gar, es seien nun endgültig „faktisch zwei Parteien“. Der Graben dazwischen sei – trotz aller Aufrufe zu Einheit und gegen „spalterische Tendenzen“ – tiefer geworden. „Und der Ton wird immer rauher.

Genau entgegengesetzt die Wahrnehmung des Bundestagsabgeordneten Kay Gottschalk, beileibe kein Mann des ehemaligen „Flügels“: Es sei „ein harmonischer Parteitag“ gewesen, sagte er der JUNGEN FREIHEIT, „die AfD ist in Dresden zusammengerückt“. Auch den „spitz formulierten Beschluß“ zum Dexit findet er gut. „Von der derzeitigen EU kann man keine echte Reform erwarten. Nicht nur bei der Impfstoffbeschaffung hat die EU versagt, auch bei der Flüchtlingskrise. Auch andere AfD-Politiker aus dem bürgerlich-konservativen Lager bewerten den Parteitag vom Wochenende als „gut gelaufen“. Die häufig knappen Mehrheiten deuteten weniger auf eine Spaltung der Partei hin, sondern eher auf fehlende Führung, ist ein Abgeordneter überzeugt. Daß der Bundesvorstand zu passiv gewesen sei, ist ein häufig geäußerter Vorwurf. Inhaltlich sei man da schlecht gerüstet gewesen. 

Offensichtlich hatten sich insbesondere Meuthen und seine Mitstreiter zu sehr auf die Abstimmung in Sachen Spitzenkandidaten fokussiert. Auch hier fiel ein denkbar knappes Votum: 51 Prozent stimmten dagegen, die Kandidaten auf dem Parteitag zu nominieren. Damit hatte Meuthen den von seinen Kontrahenten präferierten Durchmarsch eines Spitzenduos aus Tino Chrupalla und der Bundestagsfraktionsvorsitzenden Alice Weidel verhindern können. Womöglich aber ein Pyrrhussieg. Denn ob die ins Spiel gebrachte Joana Cotar bei der Basis mehr Chancen hat, ist nicht sicher. Gottschalk hielte sie als Mitglied eines Teams für „absolut geeignet, sympathisch, kompetent“. Doch die Versuche ihrer Unterstützer, im Vorfeld von Dresden eine Einigung mit dem Sachsen Chrupalla, der als gesetzt gilt, zu erreichen, scheiterten. 

Unterdessen wird ein anderer West-Politiker als Teil eines Duos gehandelt: der nordrhein-westfälische Vorsitzende Rüdiger Lucassen. Er muß allerdings erst die Nominierung für den ersten Listenplatz in seinem eigenen Verband Mitte Mai gewinnen. 

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