© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/21 / 16. April 2021

„Eine magere Bilanz“
Stromversorgung: Bundesrechnungshof rechnet mit der Energiewende ab / Kritik am Wirtschaftsministerium
Marc Schmidt

Steigende Infektionszahlen, Impfstoffmangel, Branchensterben, ein Ende der Corona-Einschränkungen nicht in Sicht – das Versagen der Bundesregierung bringt aber für die Kanzlerin und ihre Ministerriege einen Vorteil: Eklatante Fehler und das Scheitern in anderen Bereichen erregen viel weniger Aufmerksamkeit. Etwa der mittlerweile dritte Bericht des Bundesrechnungshofs (BRH) zur Energiewende, der dem Merkel-Kabinett „eine magere Bilanz“ attestiert: „Seit unserer letzten Bilanz in 2018 hat sich zu wenig getan“, erklärte BRH-Präsident Kay Scheller. „Das ist ernüchternd.“

Die Bundesregierung steuere „den Transformationsprozeß weiterhin unzureichend. Das gefährdet eine sichere und bezahlbare Stromversorgung. Mehr noch: Die Energiewende droht Privathaushalte und Unternehmen finanziell zu überfordern“, so der Jurist Scheller, der als Prototyp des korrekten politischen Beamten mit CDU-Parteibuch nicht dafür bekannt ist, unnötig zu dramatisieren. Und wenn der BRH nun empfiehlt, die Strompreisbestandteile grundlegend zu reformieren, würde man eine politische Reaktion von Wirtschaftsminister Peter Altmaier erwarten. Doch das Scheitern bei der Wahrung der Versorgungssicherheit ist keine einzige Zeile in der Pressearbeit wert – die „Forschungsförderung für die E-Mobilität“ oder der „Startschuß für weitere Nutzungsmöglichkeiten des digitalen Personalausweises auf dem Smartphone“ scheinen offenbar wichtiger. Hinter den Kulissen ist allerdings von großem Unmut im Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) zu hören. Entsprechend harsch ist der Ton der eher hilflosen Stellungnahmen der BMWi-Beamten im BRH-Bericht.

Sorge um Bezahlbarkeit und Versorgungssicherheit

Inhaltlich befassen sich die 48 Berichtsseiten vor allem mit Versorgungssicherheit und Strompreisentwicklung, die gemäß Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) Kernaufgabe des BMWi sind. Die BRH-Fachbeamten monieren, daß die bereits im Bericht von 2018 eingeforderte Quantifizierung der Ziele Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit ebensowenig umgesetzt worden ist wie die Forderung nach einem Verzicht auf kleinteilige Förderregelungen im Strompreis der Verbraucher zugunsten einer Marktregelung der Preise über einen CO2-Preis.

Dem Wirtschaftsminister sei nicht wirklich klar, welches Preisziel für welche Versorgungsmenge aus welchem Energiemix er genau mit derzeit 227 Ökostrom-Fördermaßnahmen und Programmen erreichen will. Was dann inhaltlich folgt, würde eine exzellente Oppositionsrede in einer Bundestagsgeneraldebatte abgeben: Der BRH erläutert detailliert, daß das BMWi unrealistische Ausbauziele für die „erneuerbaren Energien“ benennt, deren Potentiale zu hoch einschätzt und das Risiko wetterbedingter geringer Strom­erträge aus Wind und Sonne unzureichend berücksichtigt. Aus den falschen Annahmen folgt eine unzureichende Menge gesicherter Leistung aus konventionellen Reservekraftwerken.

Die Versorgungssicherheit am Strommarkt sei somit spätestens 2025 – drei Jahre nach dem Atomausstieg und gleichzeitigen Kohleausstieg – nicht ausreichend gesichert, obwohl das BMWi auch die zukünftige Zahl der Haushalte und Stromverbraucher bewußt zu niedrig ansetzt. Hinzu komme die Zielverfehlung beim Übertragungsnetzausbau – sprich: Der Windstrom aus dem deutschen Norden gelangt nicht zur Industrie im Süden. Der BRH bezweifelt, daß Altmaier seiner gesetzlichen Verpflichtung zur Überprüfung der Kapazitätsreserve an konventionellen Kraftwerken überhaupt nachgekommen ist.

Doch was hätte er überhaupt machen sollen? Eine überwältigende schwarz-rot-grüne politische Mehrheit sieht ganz andere Gefahren: „Wir müssen entschieden handeln! Uns bleiben nur noch wenige Jahre, um eine Chance im Kampf gegen den Klimawandel zu haben“, heißt es etwa in der aktuellen „Klimastrategie der CSU“ – nicht der Grünen Jugend. Daß die Strom-Kapazitätsreserve relevant für die Schätzung der Menge der überschüssigen Ökoenergie zur propagierten Wasserstoffproduktion (H2) ist, interessiert daher nur echte Fachleute.

Der BRH geht deshalb so weit, eine H2-Exitstrategie als Plan B in einem „Worst-Case-Szenario“ zu empfehlen. Auch ohne die Verwendung von Ökostrom für die „grüne“ H2-Erzeugung drohe durch unzureichenden Netz- und Windkraftausbau sowie durch Kraftwerksabschaltungen in vier Jahren eine potentielle Versorgungslücke von 4,5 Gigawatt (GW). Sprich: Es fehlt die gesicherte Leistung von drei AKWs oder zwei großen Braunkohlekraftwerken; es drohen Stromnetzausfälle.

Der zweite Teil des BRH-Berichts befaßt sich mit der Bezahlbarkeit von Elektrizität – doch dem BMWi fehle jede Vorstellung davon, welcher Stromtarif als „preisgünstig“ anzusehen wäre. Mehr als drei Viertel des deutschen Strompreises sind Steuern und Abgaben, etwa für das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Ohne dessen Reform sei mit einem Anstieg der gesetzlichen EEG-Umlage für Biogas-, Wind- und Solaranlagen um bis zu 20 Prozent zu rechnen. Dies lasse sich nicht mehr durch die Einnahmen aus der neuen „CO2-Bepreisung“ (Brennstoffemissionshandelsgesetz/BEHG, JF 2/21) decken.

Wirtschaftsstandort Deutschland gefährdet

In diesem Zusammenhang erneuerte der BRH seine Kritik, daß das BEHG als eine zusätzliche Belastung und nicht als Ersatz für die zahlreichen Strompreisabgaben eingeführt worden ist. Zudem erwartet der BRH steigende Strombörsenpreise – als Folge vermehrter Situationen mit negativen Strompreisen, Netzsteuerungseingriffen und der Nutzung abwerfbarer Lasten der Industrie. Denn wenn kurzzeitig deutsche Wind- und Solaranlagen zu viel Strom ins Netz einspeisen – das gibt es gelegentlich tatsächlich – sinken die Strompreise so tief, daß bestimmte ausländische Abnehmer Geld fürs Stromverbrauchen bekommen.

Zusammengefaßt bedeutet als das: Die deutschen Strompreise sind die höchsten der Welt, gleichzeitig nimmt die bislang hohe Versorgungssicherheit dramatisch ab. Daher sieht der BRH „die Gefahr, daß die Energiewende in dieser Form den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährdet, die finanzielle Tragkraft der letztverbrauchenden Unternehmen und Privathaushalte überfordert und damit letztendlich die gesellschaftliche Akzeptanz aufs Spiel setzt“.

„Bericht nach § 99 BHO zur Umsetzung der Energiewende im Hinblick auf die Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit bei Elektrizität“:

 www.bundesrechnungshof.de