© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/21 / 16. April 2021

Ringen gegen den Völkermord
China: Peking versucht seine ethnischen Minderheiten mit repressiven Methoden in die Hauptethnie der Han-Chinesen kulturell zu assimilieren
Marc Zoellner

Diese Art Einmischung war selbst dem Direktor des Historischen Museums zu Nantes zuviel: Gemeinsam mit seinem Partnermuseum in Hohhot, der Hauptstadt der zu China gehörenden „Autonomen Region Innere Mongolei“, hatte Museumsdirektor Bertrand Guillet für Ende Oktober 2020 eine größere Ausstellung über den Mongolenherrscher Dschingis Khan geplant. Jenem berühmt-berüchtigten Feldherren, der sein Land von 1206 bis 1227 regierte und das Mongolenreich in dieser Zeit von der Japanischen See bis zum Kaspischen Meer erweiterte. 

Über 200 Kulturgüter wollten die Chinesen ihren französischen Kollegen zur Verfügung stellen. Doch nur wenige Tage vor ihrer Eröffnung zog Guillet die Notbremse und sagte die Ausstellung kurzerhand wieder ab. Nicht jedoch wegen Corona: Es war die versuchte Einflußnahme der chinesischen Regierung, erklärte Guillet im Anschluß, die mittlerweile skandalöse Auswüchse angenommen hatte.

„Mit dieser Ausstellung wollten wir die mongolische Kultur fördern“, erklärte Guillet später im Interview mit der französischen Tageszeitung Le Monde. „Im Gegensatz dazu stand jedoch, was China über seine Geschichte schreiben wollte.“ Bereits zu Beginn der Konzeption hatte die chinesische Staatsführung von Guillet verlangt gehabt, aus dem Titel der Ausstellung die Begriffe „Dschingis Khan“, „Reich“, „mongolisch“ sowie „Yuan“ – die bis 1368 China regierende mongolische Herrscherdynastie – zu entfernen. Diplomatisch konnten sich beide Seiten noch auf den vage gehaltenen Ausstellungstitel „Herrscher des Himmels und der Steppen“ einigen.

Zweisprachiger Unterricht wurde eingestellt

 „Ende des Sommers jedoch folgte die Aufforderung zur Kontrolle aller unserer Arbeiten, der Texte, Karten, Kataloge und Mitteilungen“, berichtete Guillet weiter. „Die vom Pekinger Amt für Kulturerbe verfaßte neue Zusammenfassung zielte darauf ab, die mongolische Geschichte und Kultur zum Nutzen einer neuen nationalen Geschichte vollständig verschwinden zu lassen.“ 

Für Guillet war dies nicht nur geschichtswissenschaftlich betrachtet ein beträchtlicher Affront. Noch im Oktober kündigte Nantes die Zusammenarbeit mit Hohhot auf und verschob die Eröffnung der Ausstellung auf den Spätherbst 2024 – diesmal in Kooperation mit mehreren europäischen sowie US-amerikanischen Museen, die sich spontan zur Leihgabe diverser Relikte aus der Zeit Dschingis Khans bereit erklärt hatten.

Doch der Eklat von Nantes hatte auch sein Gutes: Immerhin nahmen größere Teile der westlichen Öffentlichkeit erstmalig Anteil am jüngsten Versuch Chinas, seine ethnischen Minderheiten mit repressiven Methoden in die Hauptethnie der Han-Chinesen kulturell zu assimilieren. In diesem speziellen Fall namentlich die Mongolen, die mit gut sechs Millionen Menschen – mehr als in der Mongolei leben – eine der bedeutendsten Völkerschaften Chinas ausmachen. 

Ganze 56 anerkannte Ethnien sind derzeit in China heimisch. Mit über 90 Prozent Bevölkerungsanteil stellen die Han unter diesen Völkern die sichtbare Mehrheit; was auch für die meisten Minderheitengebiete gilt, welche die diktatorisch regierende Kommunistische Partei Chinas systematisch mit Han besiedeln läßt.

Zu den bekanntesten Minderheiten zählen mit je zehn Millionen Menschen die beiden muslimischen Völker der Uiguren und der Hui im Westen sowie die Mandschuren im Nordosten, die an der chinesisch-russischen Grenze lebenden rund zwei Millionen Koreaner, die etwa sechs Millionen Tibeter im gleichnamigen Hochland, die neun Millionen Miao im Süden sowie die im Norden auf einer Fläche von gut 1,2 Millionen Quadratkilometer siedelnden Mongolen, deren religiöses Oberhaupt der tibetische Dalai Lama ist. 

Zwar bilden Mongolen auch in der Inneren Mongolei nur eine Minderheit, doch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wächst beständig. Dabei sind diese chinesischen Mongolen nicht nur für den Fortbestand der mongolischen Kultur gerade im Staat Mongolei von immenser Bedeutung – auch für die Kommunistische Partei Chinas steht und fällt einiges mit diesem Konflikt, der sich gerade um die mongolische Schriftsprache entzündet.

„In der Inneren Mongolei ist derzeit ein kultureller Genozid Chinas an den Mongolen im vollen Gange“, mahnt das in New York ansässige Southern Mongolia Human Rights Information Center (SMHRIC). Denn einer der offiziellen Slogans dieser Kampagne lautet schlicht: „Lerne Chinesisch und werde zum zivilisierten Menschen.“ Zwar verbietet der Artikel 4 der chinesischen Verfassung „die Diskriminierung und Unterdrückung von ethnischen Gruppen“. 

Und auch das „Regionale ethnische Autonomiegesetz“, unter dessen Federführung Chinas fünf Autonome Regionen sowie 30 Autonome Präfekturen entstanden sind, garantiert in Artikel 37, daß „Schüler, wann immer auch möglich, Schulbücher in ihren eigenen Sprachen benutzen sowie diese Sprachen als Mittel zum Unterrichten verwenden“ dürfen. 

Mitte vergangenen Sommers indessen kündigte das Pekinger Kulturministerium überraschend an, den zweisprachigen Unterricht in der Inneren Mongolei vorläufig einzustellen: Aus Coronagründen sei dieser derzeit nicht durchführbar. Mongolische Eltern allerdings, die ihre Kinder zur Schule brachten, erfuhren von Lehrkräften die direkte Anweisung aus Peking zum dauerhaften Verzicht auf Unterrichtsmittel in mongolischer Sprache.

In der Autonomen Region verbreitete sich der Protest die kommenden Tage wie ein Lauffeuer. Über 300.000 Schüler und Studenten riefen den Streik aus; große Teile der mongolischstämmigen Bevölkerung solidarisierten sich mit dem Anliegen. Die Pekinger Regierung ließ Militär in gepanzerten Fahrzeugen vor den örtlichen Schulen auffahren, Bestechungsgelder wurden an Lehrer verteilt, soziale Netzwerke in mongolischer Sprache sowie kurzzeitig das komplette Funknetz der Region ausgeschaltet. Zudem wurden Hunderte mutmaßliche Rädelsführer des Streiks mit Kopfgeldplakaten an den Hauswänden zur Fahndung ausgeschrieben. 

Laut Schätzungen des SMHRIC wurden allein während der einwöchigen Streiks bis zu zehntausend Menschen von den staatlichen Einsatzkräften verhaftet oder unter Hausarrest gestellt; weitere 2.500 Menschen seien im Anschluß schlicht „verschwunden“. Die chinesische Polizei gab mehrere „Selbstmorde“ unter den Eltern streikender Schüler bekannt.

Die Empörungen verstummten so rasch, wie sie ausgebrochen waren. In Tokio, Taipeh und Ulan-Bator hatten sich noch vereinzelte Gruppen von Auslandsmongolen zu Protesten vor den chinesischen Vertretungen zusammengefunden. 

Analphabetismus ist ein gravierendes Problem 

Auf internationaler Regierungsebene sprachen lediglich die USA, damals noch unter Donald Trumps Präsidentschaft, offiziell Kritik an der gewaltsamen Niederschlagung der Streiks und Demonstrationen aus. Während seines Auftritts vor dem chinesischen Parlament betonte Chinas Präsident Xi Jinping Anfang März allerdings erneut den strikten Kurs der KP Chinas im Umgang mit seinen ethnischen Minderheiten. 

Die Einwohner der Inneren Mongolei, mahnte Xi in der vom staatlichen Fernsehsender CCTV übertragenen Rede, „hätten mit dem Herzen zu lernen, daß die Ethnie der Han sich nicht von den ethnischen Minderheiten trennen läßt, und sich die ethnischen Minderheiten auch nicht von der Han-Ethnie trennen lassen können“. Die lokalen Behörden sollten „nicht lockerlassen und ethnische Probleme auf dem korrekten Weg mittels chinesischer Schriftzeichen lösen“, forderte Xi.

Analphabetismus war unter den Mongolen, die gerade in der Äußeren Mongolei, dem jetzigen Staat der Mongolei, noch immer mehrheitlich nomadisch leben, seit je ein gravierendes Problem. Nach dem Scheitern kurzzeitig erprobter Experimente mit lateinischer Schrift führte der mongolische Staat in den 1940er Jahren die kyrillische Schriftsprache landesweit ein, die in vom kommunistischen Bruderstaat der Sowjetunion finanzierten Bildungseinrichtungen gelehrt wurde. 

Das eigene, höchst komplizierte vertikale mongolische Schriftsystem geriet weiter denn je in Vergessenheit und fand einzig noch Verwendung unter den mongolischen Minderheiten in Chinas Innerer Mongolei. 

Bislang fand die Verwendung mongolischer Schrift sogar staatliche chinesische Förderung: In der Autonomen Region hatten sämtliche Straßenschilder, offizielle Dokumente sowie Geschäftsreklamen per Gesetz sowohl auf chinesisch als auch auf mongolisch beschriftet zu werden.

Pekings kritischer Blick auf die Mongolei 

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte bereits im Jahr 2003 das Englische Russisch als beliebteste Fremdsprache in der Mongolei abgelöst. Mit der politischen Abkehr von Moskau fand auch eine kulturelle Rückbesinnung unter den Mongolen auf ihre eigene Schriftsprache statt, die sich jenseits der eigenen Landesgrenzen, nämlich in China, reger Beliebtheit erfreute. 

Im März 2020 verkündete das mongolische Bildungsministerium schließlich den Regierungsplan, bis zum Jahr 2025 das kyrillische Alphabet in Unterricht, Verwaltung und den Medien durch das mongolische Schriftsystem zu ersetzen.

Seit dieser Ankündigung seien „die chinesischen Behörden besorgt, daß sich die Menschen in China wieder Übertragungen kultureller Programme von mongolischen Fernsehsendern anschauen“, berichten Befragte im Interview mit dem US-amerikanischen Radio Free Asia. Die kulturelle Annäherung der Inneren und der Äußeren Mongolei wecke in Peking Befürchtungen nach weiteren separatistischen Bestrebungen, wie sie bereits unter den Uiguren, den Tibetern und den Hongkong-Chinesen schwelen.

Immerhin machen ethnische Minderheiten zwar nur knapp zehn Prozent der chinesischen Bevölkerung aus. Doch auf dem Boden dieser Autonomen Regionen finden sich Schätzungen zufolge bis zu sechzig Prozent aller von Chinas Industrie begehrten natürlichen Ressourcen des Landes. Seit seinem Amtsantritt im März 2013 propagiert Xi dementsprechend die Leitlinie eines chinesischen „Han-Nationalismus“: der kulturellen Assimilierung der ethnischen Minderheiten des „Reichs der Mitte“ zum integralen Bestandteil des han-chinesischen Staatsvolkes; sowohl in Schrift als auch in Sprache. 

Nach der Niederschlagung der Unruhen unter Tibetern und Uiguren richtete Xi dabei frühzeitig das Augenmerk Pekings auf die Innere Mongolei – und verlegte vor vier Jahren höchstselbst seinen eigenen Wahlkreis für den Nationalen Volkskongreß, das rund 3.000 Abgeordnete zählende chinesische Parlament, von Shanghai nach Hohhot, der Hauptstadt der Autonomen Provinz.

Foto: Hirten in ihren typischen Gewändern nehmen auf dem Baima-Festival an einem Ringkampf teil: Es findet in West Ujimqin Banner in der nordchinesischen Autonomen Region Innere Mongolei statt. Die Kultur- und Sportveranstaltung ist ein traditionelles mongolisches Massenfest