© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/21 / 16. April 2021

„Aus, alles aus, aus, aus“
Schwarzer Bildschirm: In seinem Roman „Die Stille“ drückt Don DeLillo den Ausschaltknopf für das Digitalzeitalter
Dietmar Mehrens

Wäre „Die Stille“ das Bild eines großen Künstlers, wäre es eine Bleistiftskizze. Don DeLillo, Jahrgang 1936, gilt als großer Künstler, als Literat ersten Ranges, ausgezeichnet mit dem National Book Award, dem US-Pendant zum Deutschen Buchpreis, und dem Faulkner-Preis. „Die Stille“ ist ein schmales Bändchen zu einem großen Thema. Man könnte auch sagen: ein viel zu kleiner Anzug für einen gewaltigen Kerl. Denn die Novelle nimmt sich eines der komplexesten Themen der Gegenwart an: der Digitalisierung und der immer bedrohlichere Ausmaße annehmenden Vereinnahmung des Individuums durch die Domäne der Bits und Bytes. DeLillo zieht ihr in seinem jüngsten Werk eiskalt den Stecker und exemplifiziert die Folgen an einer gescheiterten Super-Bowl-Übertragung und einem Beinahe-Flugzeugabsturz, einem banalen Alltagsbeispiel also und dem großen Drama, bei dem die Helden dann aber doch glimpflich davonkommen.

Jim Kripps und Tessa Berens sind auf dem Weg von Paris nach New York, wo sie rechtzeitig eintreffen möchten, um gemeinsam mit ihren Freunden Max und Diane noch am selben Abend im Fernsehen das Finale der Footballsaison anzuschauen. Zu Gast bei Max und Diane ist außerdem Martin, ein ehemaliger Student der Physik-Professorin Diane, der von Einstein besessen ist. (Nebenbei: Übersetzer Frank Heibert übersetzt das englische „student“ mit „Studierender“ und verdient sich damit den Sprachpanscher-Sonderpreis für literarische Übersetzung.)

Plötzlich wird das Passagierflugzeug von heftigen Turbulenzen erschüttert und die Bildschirme an Bord werden schwarz. Ein schwarzer Bildschirm ebenso in der Wohnung von Max und Diane in New York, wo im Fernsehen gerade das „Experten-Blabla“ vor dem Spiel lief. Damit nicht genug: Auch die Mobiltelefone und Laptops, Herd und Kühlschrank sind tot und im Hörer des alten Festnetzanschlusses: kein Freizeichen mehr. Die Geräte „sind aus, alles, aus, aus, aus.“ U-Bahnen, Fahrstühle, Geschäfte: nichts geht mehr. Auf den Straßen gibt es Unruhen.

Verschwörungstheorie oder Expertenanalyse?

Im unendlichen Datenstrom eines unsichtbaren Systems hat der heute 84jährige Don DeLillo, Daueraspirant für den Literaturnobelpreis, schon früher den Sargnagel der modernen Welt gesehen, etwa in „Weißes Rauschen“, dem Roman von 1984. Jetzt macht der Mann aus der Bronx Ernst und inszeniert eine Hightech-Apokalypse, die unsere Wirklichkeit als „provisorisch“ erscheinen läßt.

„Ist das die beiläufige Umarmung, die den Zusammenbruch der Weltzivilisation einläutet?“ fragt Diane, als ihr dämmert, daß die Mattscheibe dunkel bleiben wird. Leitet ein Cyberangriff den Dritten Weltkrieg ein, wie Martin meint? Der Rest des Buches kreist in Form verschiedener Annäherungen, praktisch-alltäglich, religiös-philosophisch, rational-naturwissenschaftlich, ästhetisch-sinnlich, um diese Frage. Max betrinkt sich und beginnt damit, die ausgefallene Übertragung trotzig durch eigene Sprecherkommentare zu ersetzen. Diane testet die Wirkung des Namens Jesus von Nazareth aus, ein Symbol für die lose gewordene religiöse Bindung der westlichen Zivilisation – und ohne Bindung kein Halt. Bei Martins physikalischen Erklärungsversuchen verschwimmen die Grenzen – auch das ein zentrales Thema unserer Zeit – zwischen geistesgestörter Verschwörungstheorie und scharfsinniger Expertenanalyse, zwischen Labilität und Genialität.

Jim und Tessa treffen, leicht lädiert, schließlich doch noch ein. „Was, wenn wir gar nicht sind, was wir zu sein glauben?“ bringt Tessa die Fragilität eines ganzen Zeitalters auf den Punkt. „Was, wenn die Welt, die wir kennen, komplett neu geordnet wird?“ Später beginnt die Online-Publizistin ein Gedicht mit der Zeile: „In einer taumelnden Leere.“

Nur Minuten von einem Blackout entfernt

Don DeLillos Szenario ist utopisch, die Handlung datiert auf Februar 2022. Die Covid-19-Pandemie ist darin bereits Geschichte und gleichwohl allgegenwärtig: Er skizziert eine Welt, in der sich die trügerischen Sicherheiten des digital-technologischen Zeitalters in Luft aufgelöst haben und das Zurück zum Status quo ante minütlich unwahrscheinlicher wird.

Doch auch jenseits des aktuellen Totentanzes um Inzidenzzahlen ist „Die Stille“ dichter dran an der Realität, als mancher wahrhaben möchte: Am 12. Juni 2019 verzeichnete die Amprion GmbH, Betreiber des zweitgrößten Höchstspannungsstromnetzes hierzulande, eine akute Unterversorgung mit Strom. Kurz vor zwölf Uhr fehlten 7.463 Megawatt, die Leistung von sechs Atomkraftwerken. Die Bundesrepublik war damit nur Minuten von einem kontrollierten Blackout entfernt.

Das Thema hat also das Zeug zum hochdramatischen Katastrophenthriller – ein Potential, das der Autor ungenutzt gelassen hat. Er wählte lieber den kleinen Anzug, in dem vieles angerissen und nichts scharf konturiert ist. Das Buch ist mehr laues Lüftchen als großer Wurf. Und der beste Satz darin stammt bezeichnenderweise nicht von DeLillo selbst, sondern von Albert Einstein: „Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im Vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.“

Don DeLillo: Die Stille. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, gebunden, 112 Seiten, 20 Euro