© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/21 / 16. April 2021

Das Elend der Meisterdenker
Covid-19: Führende Intellektuelle sind zumeist Anhänger der Coronakratie
Felix Dirsch

Der in der Zwischenkriegszeit veröffentlichte Essay „Der Verrat der Intellektuellen“ des französischen Philosophen Julien Benda zündete binnen kurzer Zeit. Der Autor prangerte die Verführbarkeit der Intelligentzija an, die vor Verlockungen des Nationalismus und Kommunismus nicht gefeit sei. Ihr Auftrag aber sei es, Werte wie Universalismus und Gerechtigkeit zu vertreten. Die historische Wirklichkeit, so ist zu präzisieren, mutet jedoch ein wenig komplexer an.

In der Tat: Viele Intellektuelle dienten sich, wenigstens zeitweise, totalitären Regimes an. In knapper Auswahl sind Bert Brecht, Ernst Bloch, Johannes R. Becher oder Lion Feuchtwanger zu nennen. Zum rechten Pendant zählen Gelehrte wie Martin Heidegger, Carl Schmitt und Gottfried Benn. Sie wollten zumindest anfangs nicht realisieren, daß „der Führer“ nicht geführt werden wollte. 

Bendas Polemik fiel auf fruchtbaren Boden. In den 1970er Jahren veröffentlichte der Münchner Politologe Kurt Sontheimer seine vielbeachtete Schrift über das „Elend der Intellektuellen“, nur relativ kurze Zeit nach dem kritischen Traktat „Die Arbeit tun die anderen“ des konservativen Soziologen Helmut Schelsky, der den offenkundigen Wunsch der klassenkämpferischen „Tertiärbürger“ nach einer neuen „Priesterherrschaft“ aufspießte.

Sloterdik lobt die „eiserne Corona-Hand“

Die Auseinandersetzungen in Deutschlands „rotem Jahrzehnt“ über die Rolle der Gelehrten liegen schon länger zurück. Damals rügte man vor allem deren Neigung, Wolkenkuckucksheime fernab der Realität zu errichten. In Pandemie-Zeiten jedoch scheint der Anreiz philosophischer Avantgardisten, kontrafaktische Entwürfe vorzulegen, eher bescheiden. Angesichts der Bedrohung durch das Virus sinkt die Lust der gesamten Linken spürbar, Vorschläge nach Veränderungen in den Vordergrund zu stellen. Lieber starren ihre Gefolgsleute wie der gesamte politmediale Komplex auf die tägliche Verkündung der Infektionszahlen.

Einer der Großdenker der Republik, der Philosoph Peter Sloterdijk, hat sich mittlerweile aufs Altenteil nach Berlin-Halensee zurückgezogen. Dort gibt er Kommentare zum Corona-Geschehen, die systemkonformer kaum sein könnten. „Der Staat streift seine Samthandschuhe ab“, so der Titel eines Sammelbandes, der kommende Woche erscheinen soll. In einem anderen Gespräch ironisierte er überdies die Ansichten der „Querdenker“, ohne auf deren Anliegen mit nur einer Silbe einzugehen.

Früher hörte sich der Grundduktus seiner Publikationen anders an. Der öffentlichkeitswirksame Schriftsteller deckte in den frühen 1980er Jahren mit stilistischer Brillanz vielfältige Herrschaftszynismen auf. Sie waren besonders aufgrund der Überrüstung der Supermächte und der Möglichkeit eines mehrfachen Overkills mit Händen zu greifen. Sloterdijk spannte einen Bogen von den antiken Kynikern, von denen besonders „Tonnen-Diogenes“ den Nachgeborenen notorisch ist, bis zur grün-alternativen Opposition. 2020 ist beim ehemaligen Hochschulrektor nur noch das Lob der „eisernen Corona-Hand“ übriggeblieben. Freiheit als Wert schrumpft demnach proportional zur befürchteten Nähe des Todes. Der Zynismus, der im Kontext der zahllosen Lockdown-Geschädigten zum Vorschein kommt, ist natürlich keinerlei Erörterungen wert. 

Agamben: Ausnahmezustand wird zur Normalität

Stärker antikapitalistisch als der Ex-68er Sloterdijk gibt sich der slowenische Performance-Philosoph und erklärte Neo-Kommunist Slavoj Žižek. In seiner Abhandlung „Pandemie! Covid-19 erschüttert die Welt“ arbeitet er unter anderem heraus, wie die Klassenunterschiede im Lichte der Katastrophe wieder stärker virulent werden. Die zahllosen Diskussionen über „Triage“ verführen, die vielleicht hier und dort nötige Selektion der Patienten mit der Größe ihres Geldbeutels in Verbindung zu bringen. Belastbare Hinweise kann er jedoch nicht anführen, so daß die Gedankengänge in Sphären des Spekulativen verbleiben.

Im Rahmen von Žižeks Überlegungen gewinnt man mitunter den Eindruck, daß er den spürbaren Zwangscharakter der „Coronakratie“ hin zu einer dauerhaften, planwirtschaftlichen Diktatur noch verstärken möchte. Ist die Seuche nicht Indiz für das nahende Ende des Kapitalismus? Im Grunde genommen ist der „Elvis der Kulturtheorie“ nicht über Marx hinausgekommen, der bekanntlich stets Ausschau hielt nach Anzeichen für den Untergang des verhaßten Wirtschaftssystems.

Die feministische Philosophin Judith Butler, einflußreiche Autorin der längst ausgeuferten Geschlechter-Debatten, wäre von ihren Themen her prädestiniert für eine kritische Analyse der augenblicklichen Kontroversen. Schließlich problematisierte sie häufig die Bedeutung des (primär weiblichen) Körpers, gerade in den Auseinandersetzungen um „Gender-Troubles“. Man findet aber kaum Bezüge zum derzeitigen Problem Nummer eins: die Relevanz des Körpers für medizinische Experimente, die mitunter sogar tödlich sein können. Zur Problematik von Impfen und Körperintegrität hätte man klare Aussagen von Butler erwarten können. Da wirkt es wie ein Ausweichmanöver, wenn sie in der jüngsten Zäsur meist mit antikapitalistischen Phrasen arbeitet. 

Für die Ehrenrettung der Zunft sorgt der wohl bekannteste Philosoph Italiens, Giorgio Agamben. Sein Denken kreist schon geraume Zeit um Themen wie Ausnahmezustand, Normalität, Biopolitik, nacktes Leben und Internierungslager aller Art. Zuerst vor rund zwei Jahrzehnten auf die Situation des weltweiten Terrors und die Reaktion darauf angewendet, bieten sich nun andere Betrachtungen an: Unlängst hat er seine Texte zur „Epidemie als Politik“ in gesammelter Form auf den Markt gebracht („An welchem Punkt stehen wir?“). Er zeichnet ein düsteres Bild der Lage: Soziale Distanzierung führe in letzter Konsequenz zur Auflösung des öffentlichen Raumes.

Seine Worte zu den aktuellen Gesundheits-Regimes in Europa, die sich kaum unterscheiden, sind wohl etwas überspitzt: Der „totalitärste Apparat der Geschichte“ sei installiert worden. Selbst die Mussolini-Diktatur habe die Freiheitsrechte nicht stärker eingeschränkt, als es aktuell gängige Praxis sei. Die größte Gefahr sieht er im (seiner Ansicht nach) wichtigsten Ergebnis der Pandemie-Politik: daß der Ausnahmezustand zur Normalität wird. Agamben ist sich nicht sicher, ob die derzeitige Hygiene-Ausnahmeherrschaft eine kommissarische ist, die zurückführt zur konstitutionellen Ordnung. Handelt es sich – gut schmittianisch – nicht vielmehr um ein souveränes Regiment, das eine neue Ordnung schaffen will?

Zu den interessantesten Passagen seiner neuesten Darstellung zählt die Differenzierung von Furcht und Angst. Im Anschluß an Kierkegaard und Heidegger arbeitet Agamben das „Worum“ der Furcht heraus, die auf ein konkretes Objekt verweist. Anders die Angst, die mit allgemeinem Vorwissen um das endliche Dasein zu begründen ist. Selten trafen in der Vergangenheit Heideggers Worte so zu wie in der aktuellen Lage: „Die Furcht verwirrt und macht ‘kopflos’.“ 

Diese Furcht wird in erheblichem Maß medial geschürt. Agamben beklagt Informationskampagnen, die Desinformation fördern. Gerne werde mit Zahlen Panik verbreitet, die der Erklärung bedürften und in Relation zu anderen Entwicklungen gesetzt werden müßten, etwa die (statistisch hochgerechnete) Sterblichkeitsrate des letzten Jahres mit den entsprechenden Daten der Vorjahre. Letztlich wird in der gegenwärtigen Zäsur ein zentrales Tabu berührt: der Umgang mit dem Tod. Werden Leichen im Konvoi von der Stadt A zum Ort B transportiert und medial entsprechend kommuniziert, scheint jede Maßnahme gerechtfertigt. Es gibt nur noch die Verteidigung des nackten Lebens. Gesundheit mutiert demnach zum höchsten Gut, das mehr Pflicht als Recht darstellt. Im Vergleich zur Ewigkeit ist dieses jedoch niedrig. Agamben spricht diese Tatsache erfreulich ehrlich aus.

Slavoj Žižek: Pandemie! Covid-19 erschüttert die Welt. Passagen Verlag, Wien 2020, broschiert, 112 Seiten, 15,30 Euro

Giorgio Agamben: An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Verlag Turia + Kant, Wien 2021, broschiert, 155 Seiten, 16 Euro

Peter Sloterdijk: Der Staat streift seine Samthandschuhe ab. Ausgewählte Gespräche und Beiträge 2020–2021. Suhrkamp, Berlin 2021, broschiert, 200 Seiten, 18 Euro