© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/21 / 16. April 2021

„Wirkliche Tiefe hat nur das Gute“
Totalitarismus: In der Bonner Kunsthalle erinnert eine Ausstellung an „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“
Ludwig Witzani

Mit 14 Jahren las sie Kants „Kritik der reinen Vernunft“, mit 22 Jahren entwickelte sie in ihrer Dissertation über den „Liebesbegriff bei Augustin“ bereits einige der Grundbegriffe ihrer späteren Philosophie. Sie studierte bei Martin Heidegger, mit dem sie ein heimliches Liebesverhältnis unterhielt, Edmund Husserl und Karl Jaspers und verließ Deutschland nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Die Rede ist von der deutsch-jüdischen Philosophin Hannah Arendt, die nach ihrer Flucht in die USA zu einer der einflußreichsten Gestalten in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts aufstieg. 

Anfang der fünfziger Jahre verschaffte ihr das Tausendseitenwerk über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) internationale Publizität. Antisemitismus und Imperialismus erschienen in diesem Buch als Wegbereiter für einen fundamentalen Irrweg der Moderne, der in zwei Spielarten der totalen Herrschaft mündete: dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus. Kernelement der totalen Herrschaft ist der Terror, der wie ein gefräßiger Moloch die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Hannah Arendts Erklärungsansätze streifen apokalyptische Dimensionen, wenn sie darauf hinweist, daß die absolute Weltlosigkeit, in die der totalitäre Terror den Menschen versetzt, ihn letztlich seiner Qualitäten als menschliches Wesen beraubt. 

Eine andere Geschichte von Freiheit und Politik

Diese anthologische Dimension vertiefte sie in ihrem Werk „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ (1958). Darin unterscheidet Hannah Arendt drei Arten des Tätigseins: „Arbeiten“, „Herstellen“ und „Handeln“. Unter „Arbeiten“ versteht sie eine aktive Weise des Weltverlustes im Modus der Mühe. Die Arbeit hat weder Anfang noch Ende und „kreist“ stattdessen immerwährend um die Imperative der Lebensnotdurft.

Das „Herstellen“ ist eine „linear“ ablaufende Tätigkeit mit Anfang und Ende und unterliegt der Logik von Zwecken und Mitteln. Das „Handeln“ dagegen ist die einzige Tätigkeit der Vita activa, die sich ohne Materie und Material direkt zwischen Menschen abspielt. Ihre Grundbedingung ist die „Pluralität“ von Menschen im Medium der Öffentlichkeit. Ihr Wesenskern ist das „Anfangen“ unter Risiko und Unsicherheit, mit anderen Worten: das Erlebnis der Freiheit. Ein so definiertes Handeln ist nicht jederzeit und überall möglich, sondern bedarf eines besonderen Erscheinungsraumes. Mit der Etablierung des ersten Raumes für ein so verstandenes Handeln im Bereich der griechischen Polis war für Hannah Arendt die Geburt der Politik verbunden. 

Ihr nächster großer Wurf, „Über die Revolution“ (1963), fragte nach dem Niedergang dieses Politikbegriffs im Zuge der neuzeitlichen Revolutionen. War in der antiken Polis die politische Sphäre ein von der Privatheit abgegrenztes „Überschußphänomen“, so stellten die radikalen Jakobiner in der Französischen Revolution die Verhältnisse auf den Kopf, indem sie die private Not zum Thema der Politik erklärten. Robespierre machte aus der Politik als dem „Reich der Freiheit“ einen Reparaturbetrieb gesellschaftlicher Not, der niemals zum Abschluß kommt, zur Hypertrophie neigt und in Despotie endet. Verräterisch erscheint der Autorin der Kategorienbruch, der darin bestand, daß die fehlgeleiteten Revolutionäre so agierten, als hätten sie es mit Zweck-Mittel-Relationen und Herstellungsprozessen zu tun.

Nur von diesen Denkansätzen her ist Hannah Arendts Präferenz für das Rätesystem zu verstehen. Am Beispiel der ungarischen Revolution von 1956 lobt sie das Hervortreten freier Menschen, die öffentlich und unter Risiko in die Belange des Gemeinwesens eingriffen, ehe sie vom Mahlstrom der Gewalt vernichtet wurden. 

Man sieht, Hannah Arendt erzählte eine ganz andere Geschichte der „Politik“, die sich keinem der gängigen Lager zuordnen ließ. Um so größer war die Faszination ihres Werkes, die auch nach ihrem frühen Tod 1975 nicht abebbte und zu zahlreichen Retrospektiven führte. Eine solche Retrospektive bietet die Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“, die jetzt in der Bundeskunsthalle in Bonn zu sehen ist. 

Um es gleich vorwegzusagen: Diese Ausstellung ist unbedingt sehenswert, wenngleich manche Exponate ohne Kenntnis des Arendtschen Werkes ein wenig in der Schwebe bleiben. Plakative Zitate an den Wänden, aufgeschlagene Bücher unter Glas, Fotoreproduktionen und kurze Fernsehsequenzen vermitteln den Besuchern einen konzentrierten Überblick über Hannah Arendts Lebensstationen und Projekte – angefangen von den Kindheitszeugnissen bis zu großformatigen Bildern, auf denen ihre Freunde, Kollegen und Lebenspartner zu sehen sind.

Ein besonderes Schmankerl ist den Ausstellungsmachern mit der Konzeption thematischer Nischen gelungen, die dem Besucher ermöglichen, sich in eine Wandnische zu setzen und sich per Knopfdruck über die Kontroversen im Leben der Autorin unterrichten zu lassen. Diese räumlich abgegrenzten, rein auditiven Präsentationen zu Zionismus, Auschwitz, totaler Herrschaft, dem Eichmann-Prozeß, Rassismus und Feminismus und anderen Themenfeldern beruhen auf exzellent ausgewählten Originalzitaten, die in Form von Rede und Gegenrede daherkommen und manche Schneise in eingespielte Urteilsroutinen schlagen.

Bei der Debatte um die staatlicherseits erzwungene Rassenintegration in den USA besteht Hannah Arendt zum Beispiel darauf, daß man Menschen gesellschaftliche Diskriminierungen und Unterscheidungen nicht verbieten könne. Gleichheit bestehe nur im Politischen, wozu aber Familie, Religion und Erziehung gerade nicht gehörten. Geradezu prophetisch mutet es an, wenn Hannah Arendt darauf hinweist, daß jede politisch erzwungene gesellschaftliche Gleichheit in Tyrannei enden muß. Diversity-Regeln und Quotenpolitik lassen grüßen.

Bei radikalen Studenten fand sie wenig Gegenliebe

Am überzeugendsten erscheint die auditive und visuelle Aufbereitung der Eichmann-Kontroverse, die in den frühen sechziger Jahren hohe Welle schlug. Hannah Arendt hatte den vom israelischen Geheimdienst in Argentinien aufgespürten und nach Israel entführten SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann als ein „armes Würstchen“ bezeichnet und das „Böse“, das er und die anderen mediokren Führergestalten des Nationalsozialismus repräsentierten, als „banal“ charakterisiert. Diese These von der „Banalität des Bösen“ wurde als Exkulpation nationalsozialistischen Unrechts mißverstanden und heftig bekämpft – ebenso wie Hannah Arendts sehr harte Beurteilung der Rolle der sogenannten „Judenräte“ im Rahmen des nationalsozialistischen Völkermordes. „Das Böse“, so schrieb Hannah Arendt an ihren Widerpart Gershom Scholem, „hat keine Tiefe. Es verwüstet die Welt wie der Pilz an der Oberfläche. Wirkliche Tiefe hat nur das Gute.“

Die Darstellung des Themenkomplexes „Totale Herrschaft“ ist mißlungen. Der politisch unkorrekten These, wonach sich das nationalsozialistische und das kommunistische Terrorsystem in vielfacher Hinsicht ähneln, weichen die Kuratoren einfach dadurch aus, daß sie sich auf den Imperialismus als einem Teilaspekt des Gesamtwerkes konzentrieren. Warum sich die Ausstellungsmacher dabei ausgerechnet auf ein mißverständliches Joseph-Conrad-Zitat über Schwarzafrikaner kaprizieren, bleibt rätselhaft. Wahrscheinlich wollten sie darstellen, daß sich selbst die große Hannah Arendt bei der Untersuchung imperialistischer Repression dem kolonialen Blick nicht entziehen konnte. 

Kein Wunder, daß Hannah Arendt bei den radikalen Studenten der sechziger Jahre wenig Gegenliebe fand. „Sie war für uns eine Rechte“, sagte Daniel Cohn-Bendit in einer Fernsehsequenz, während Hannah Arendt, die mit seinen Eltern befreundet war, den jungen Daniel in einem Brief mit „Mein lieber Junge“ anredete. Der „Radau“, die „Sprechchöre“ und die „theoretische Sterilität“ namentlich der deutschen Studenten waren ihr trotzdem ein Greuel, und es gehört wenig Phantasie dazu, sich ihr Urteil über die Cancel-Culture an heutigen Universitäten vorzustellen.

Mit Feminismus hatte Hannah Arendt schon gar nichts am Hut. Zwei Frauenrechtlerinnen, die die prominente Autorin in den siebziger Jahren einluden, sagte sie ab mit dem Hinweis, daß sie über die Frauenfrage „noch nicht hinreichend nachgedacht“ habe und sie deswegen ihren Meinungen „nicht trauen“ könne. Auch eine Form der Zurückhaltung, die man manchem Talkshowteilnehmer ans Herz legen möchte.

Berücksichtigt man die generellen Schwierigkeiten, intellektuelle Positionen museal aufzubereiten und die Komplexität und Vielfältigkeit der Themen, mit denen sich Hannah Arendt ein Leben lang beschäftigte, dann ist den Kuratoren alles in allem ein erfolgreiches Projekt gelungen – auch deswegen, weil die Art der Materialpräsentation in typisch Ahrendtscher Manier weniger bündige Antworten gibt, als das Denken anregt. 

Deshalb fragt man sich aber auch, warum die kritische Potenz der Arendtschen Begriffe so wenig aktualisiert wird. Gerade weil Sprechen und Debattieren frei handelnder Menschen im öffentlichen Raum bei Hannah Arendt die höchste Seinsweise der Vita activa darstellen, repräsentiert das notorische Deplatforming und das Stigmatisieren abweichender Standpunkte durch die  kulturhegemoniale Linke einen Tiefpunkt der gegenwärtigen politischen Kultur. Wäre das nicht auch ein Thema für eine Nischenpräsentation gewesen?

Die Ausstellung ist mit einem negativen Corona-Schnelltest bis zum 16. Mai in der Bonner Bundeskunsthalle, Helmut-Kohl-Allee 4, täglich außer montags von 10 bis 21 Uhr zu sehen. Telefon: 02 28 / 91 71–200

 www.bundeskunsthalle.de