© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/21 / 16. April 2021

Wie  „Aktivisten“ mit gutem Gewissen den freiheitlichen Staat zerstören
Zur Besinnung nicht fähig
Lothar Fritze

Ein gesinnungsethischer Furor hat die westliche Welt erfaßt. Eine die Politik, die Medien sowie einschlägige Fächer der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften dominierende Elite ist dabei, ihre geistig-kulturelle Vorherrschaft in eine ideologische Hegemonie zu transformieren. Sie zielt darauf ab, ihre kosmopolitischen und moralisch-universalistischen Überzeugungen jeder Kritik zu entziehen und deren Nicht-Akzeptanz als moralisch verwerflich erscheinen zu lassen.

Die Anzeichen dafür lassen sich nicht mehr übersehen: Immer weniger sind die radikalen Vertreter dieser Elite bereit, alternative Positionen zu dulden; immer mehr gehen sie dazu über, die öffentliche Artikulation nicht genehmer politisch-moralischer Grundorientierungen zu unterbinden. Viele Probleme von allgemeinem Interesse können schon heute, jedenfalls in Deutschland, nicht mehr ergebnisoffen diskutiert werden.

Eine mächtige Minderheit an den Schalthebeln von Staat und Gesellschaft hat es vermocht, ihre Grundeinstellung zu fundamentalen Fragen des Lebens und des gesellschaftlichen Zusammenlebens weitgehend der öffentlichen Kritik zu entziehen. Um ihr den Nimbus unhinterfragbarer Gültigkeit zu verleihen, werden gruppenbezogene und moralisch-partikularistische Einstellungen stigmatisiert und ihre Vertreter ausgegrenzt. Selbst hochrangige Beamte, die sich nicht bereitfinden, den machtmißbräuchlichen Kampf gegen politische Gegner mitzutragen (wie etwa der ehemalige Chef des deutschen Verfassungsschutzes), sehen sich gemaßregelt oder in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Auch einflußreiche Intellektuelle, die wider den Stachel löcken, kann das Schicksal ereilen, zu Unpersonen gemacht zu werden. Permanent wird das Volk einer ideologiekonformen Indoktrination und geistigen Manipulation unterzogen.

Zu glauben, daß es eine realistische Option sei, eine weltweite Gesellschaft zu schaffen, in der die Interessen aller gleichermaßen berücksichtigt werden, gilt heute als moralische Pflicht. Wer Zweifel an der Politik der herrschenden Elite äußert – sei es an der Europa-, der Energie- oder Migrationspolitik –, stößt nicht nur auf pures Unverständnis, sondern zieht Haß und Verachtung auf sich. Wer die Position vertritt, daß sich viele der für einen Menschen existentiell bedeutsamen Probleme am besten im Rahmen von Nationalstaaten bearbeiten lassen, gilt den radikalen Vertretern dieser Elite wenigstens als ein Ewiggestriger, wenn nicht als verkappter Nazi.

Das immer wieder zu hörende Argument, jeder könne frei seine Meinung sagen, er habe nur die Kritik zu ertragen, ist selbstentlarvend. Ganz offensichtlich umschifft es das entscheidende Monitum: Natürlich, man kann in Deutschland – jenseits des strafrechtlich Verbotenen – alles sagen, aber man kann längst nicht mehr alles sagen, ohne gegebenenfalls empfindliche Nachteile hinnehmen zu müssen. Politisch inkorrektes Verhalten wird sanktioniert – mitunter gnadenlos. Dabei steht nicht selten die soziale Existenz auf dem Spiel. Deutschland ist kein liberales Land mehr.

Der Gedanke, eine Gruppe von Aktivisten dürfe sich aufgrund ihrer „besseren Einsicht“ oder höheren Moralität selbst dazu bestimmen, die Äußerung und Diskussion unrichtiger Auffassungen zu verhindern, ist in einer freiheitlichen Gesellschaft inakzeptabel.

Das Streben nach ideologischer Hegemonie steht in Widerspruch zu einer der wichtigsten Erfahrungen der Menschheit – nämlich daß Wettbewerb in vielen Bereichen des Lebens, etwa in der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft oder im Sport, zu höheren Leistungen führt. Einem ideologischen Hegemon geht es aber – und zwar per definitionem – darum, den Wettbewerb der Ideen im Bereich der Politik und gegebenenfalls auch in der Wissenschaft zu eliminieren oder jedenfalls zu kontrollieren. Meinungsäußerungen sollen nur in den von ihm festgelegten Grenzen erlaubt sein.

Diese Elite möchte nicht nur Probleme lösen und die Dinge besser machen, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich neu gestalten – ja, sie fühlt sich verpflichtet, „die Welt zu retten“. Viele ihrer Aktivisten halten es für ihre Mission, unser Denken und Verhalten zu ändern – ja, aus uns bessere Menschen zu machen.

Weil so viel auf dem Spiel steht, nämlich zu gewährleisten, daß die Erde auch in Zukunft noch bewohnbar ist, ist man sogar bereit, die Demokratie und zen­trale Grundrechte in Frage zu stellen. Warum soll es erlaubt sein, so fragt man, den menschengemachten Klimawandel zu leugnen, wenn die Äußerung falscher und wissenschaftlich längst widerlegter Auffassungen die Bereitschaft der Bevölkerungen konterkariert, notwendige Maßnahmen zu seiner Vermeidung zu tolerieren? Worin besteht der Sinn, denjenigen ein Podium zu eröffnen, die verwerfliche Positionen verkünden und den menschlichen Fortschritt behindern?

Welche Auffassungen wissenschaftlich widerlegt sind, bedarf jedoch selbst der unbehinderten Diskussion in der Wissenschaft. Welche Positionen als moralisch vertretbar gelten dürfen, kann weder ein einzelner noch eine Gruppe autoritativ bestimmen und für alle verbindlich vorschreiben. Der Gedanke, eine Gruppe von Aktivisten dürfe sich aufgrund ihrer, wie sie glaubt, besseren Einsicht oder höheren Moralität selbst dazu bestimmen, die Äußerung und Diskussion unrichtiger Auffassungen zu verhindern, ist in einer freiheitlichen Gesellschaft inakzeptabel. Eine Selbstermächtigung qua Selbstzuschreibung dieser Art ist nicht zustimmungsfähig. Ihr zuzustimmen hieße, sich selbst den Status eines vernunftbegabten und zur Selbststeuerung fähigen Wesens abzusprechen – und damit seine Zustimmung für irrelevant zu erklären.

Immer mehr Menschen begehren mittlerweile auf, darunter auch Intellektuelle und Wissenschaftler. Ihnen wird bewußt, daß mit der Beschränkung des Sagbaren elementare Bedingungen ihrer geistigen und beruflichen Existenz zerstört werden. Wissenschaft findet dort statt, wo alle relevanten Gesichtspunkte offen und ohne jede Einschränkung erörtert und alle Argumente vorgebracht werden können, ohne daß auf Befindlichkeiten von wem auch immer Rücksicht genommen werden müßte.

Doch der Widerstand bleibt letztlich zu schwach. Vor allem aber stößt er auf einen Hegemon, der es nicht mehr nötig hat, auf sachliche Herausforderungen inhaltlich zu reagieren. Mit Effektivität und ohne jede Nachsicht bedient er sich der ihm zur Verfügung stehenden Disziplinierungsmittel. Die gesellschaftliche Dominanz dieser linken und sich – fälschlicherweise – linksliberal dünkenden Elite ist überwältigend und nur noch in Zeiten größter allgemeiner Verunsicherung angreifbar.

Ungeachtet dessen werden die (berechtigten) Klagen aus dem konservativen Milieu – etwa bezüglich der Übertreibungen der „Political Correctness“ oder die Unverfrorenheiten der „Cancel Culture“ – regelmäßig in der Erwartung vorgebracht, Warnungen könnten auch auf der anderen Seite der Barrikade nachdenklich machen und Appelle an die Vernunft auch dort Gehör finden. Man baut auf die Einsichtsfähigkeit der Protagonisten des gegnerischen Lagers und rechnet mit der Möglichkeit einer geistigen Umkehr.

Aber worauf stützen sich der Glaube und die Hoffnung, diese Gesinnungselite werde sich eines Tages eines Besseren besinnen und zur Rationalität zurückkehren? Deren Anhänger verbreiten nicht nur eine Ideologie und fordern nicht nur ein ideologiekonformes öffentliches Sprechen und Handeln, sondern sind selbst von der Richtigkeit und moralischen Überlegenheit ihres Denkens zutiefst überzeugt. Sie sind Aktivisten mit gutem Gewissen. Sollte man wirklich darauf bauen, daß sie die Fragwürdigkeit ihrer Überzeugungen und die Unpraktikabilität ihrer Forderungen durchschauen, ihr Ideensystem als Ideologie erkennen und ihre Meinung ändern? Warum sollte das passieren?

Wie schwer ist es selbst in der Wissenschaft geworden, auf auch nur halbwegs klare Definitionen für die längst sinnentleerten Schlagworte zu bestehen, die uns täglich um die Ohren gehauen und zur Charakterisierung großer Bevölkerungsteile mißbraucht werden!

Es spricht nicht nur nichts dafür, daß wir eine Rückkehr zur praktischen Vernunft erleben werden; es ist außerordentlich unwahrscheinlich – und zwar aus mindestens zwei Gründen.

Zum einen überbietet die moralische Relevanz der Handlungsmotive sämtliche pragmatischen Bedenken. Wer Gefahren für die Menschheit abwehren will oder nach gesellschaftlichen Verhältnissen strebt, in denen niemand seine Gefühle verletzt sieht und sich keiner und keine als diskriminiert oder benachtei-ligt betrachten kann, glaubt auch, zu diesem Zweck große Risiken und be-trächtliche Kollateralschäden in Kauf nehmen zu dürfen. Die Annahme, eine gesinnungsschwangere Bewegung mittels rationaler Erwägungen und Diskussionen zur Besinnung bringen zu können, ist naiv.

Zum anderen mag es zwar möglich sein, einzelne Aktivisten mit Argumenten zu überzeugen, es ist aber unmöglich, ein geistiges Klima auf diesem Wege entscheidend zu verändern. Denn selbst wenn die Vertreter eines Ideensystems gar keine Überzeugten mehr wären, sondern dieses nur als Lippenbekenntnis akzeptierten und opportunistisch verträten, änderte sich doch dadurch nichts an der ideologischen Durchseuchung der öffentlichen Kommunikation. Die ideologisch eingefärbten Verhaltenserwartungen, mit denen jeder einzelne sich konfrontiert sieht, wären nach wie vor im Schwange und würden das Verhalten entsprechend beeinflussen. Selbst mit Menschen, die etwas weniger überzeugt, dafür aber um so opportunistischer eingestellt sind, muß eine Bewegung nicht zwingend an Dominanz und Dynamik verlieren.

Hat sich ein solches System der praktischen Unvernunft erst einmal etabliert, stabilisiert es sich ganz ohne ideologisch Überzeugte – nämlich allein durch den vorauseilenden Gehorsam der Unbedarften, durch die Angst der Ängstlichen und durch die Kaltschnäuzigkeit der Zyniker und Gewieften. Wer bringt es fertig zu widersprechen, wenn in einer Versammlung die Idee geäußert wird, die Firma, das Institut oder der Verein möge sich am „Kampf gegen Rechts“ beteiligen? Wer vermag in der Schule abseits zu stehen, wenn die Parole ertönt, gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit Farbe zu bekennen? Wie schwer ist es selbst in der Wissenschaft geworden, auf auch nur halbwegs klare Definitionen für die längst sinnentleerten Schlagworte zu bestehen, die uns täglich um die Ohren gehauen und zur Charakterisierung großer Bevölkerungsteile mißbraucht werden!

Indem es die politische und mediale Elite geschafft hat, die Zustimmung zu ihren eigenen Positionen zu einer Frage der Moral zu machen, ist sogar der Selbstwiderspruch salonfähig geworden. Heute kann man pauschal die Vielfalt preisen und zugleich verlangen, daß alle einheitlich denken. Man kann für die gleiche Würde aller Menschen eintreten und im gleichen Atemzug den politischen Gegner verunglimpfen. Man kann sich verbal für die offene Gesellschaft stark machen und dabei den perfidesten Dogmatismus pflegen.

Natürlich: Nichts funktioniert ewig. Wer aber die DDR kennengelernt hat, weiß, daß bleierne Zeiten, in denen man mit ideologiekonformem Gefasel, mit irrationalen Einlassungen, ja mit offensichtlichem „Bull­shit“ reüssieren kann, mitunter Jahrzehnte währen. Eine in der eigenen Ideologie gefangene Elite hat die Gesellschaften des Westens in einen Kulturkampf verstrickt, und es ist nicht davon auszugehen, daß sich die Verhältnisse wieder normalisieren werden. Diese „Elite“ wird den freiheitlichen Staat an die Wand fahren.






Prof. Dr. Lothar Fritze, Jahrgang 1954, ist Philosoph und Politikwissenschaftler. Von 1993 bis 2019 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden und lehrte als außerplanmäßiger Professor Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Letzte Buchveröffentlichung: „Kulturkampf. Moralischer Universalismus statt Selbstbehauptung?“, Dresden 2021.

Foto: Fabriziertes Denken: Eine in der eigenen Ideologie gefangene Elite hat die Gesellschaften des Westens in einen Kulturkampf verstrickt, und es ist nicht davon auszugehen, daß sich die Verhältnisse wieder normalisieren werden