© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/21 / 16. April 2021

„Ich kann nicht anders, hier stehe ich“
Vor 500 Jahren mußte Martin Luther auf dem Reichstag in Worms vor Kaiser und Landesfürsten seine Schriften verteidigen / Schlüsseldatum der Reformation
Georg Habenicht

Am 16. April 1521, einem Dienstag, gegen 10 Uhr vormittags, zog Martin Luther durch das Mainzer Tor in Worms ein. Von den Domtürmen hatten Trompeter seine Ankunft gemeldet. Voran ritt der Reichsherold Caspar Sturm. Auf seiner breiten Brust prangte auf leuchtend gelbem Grund schwarz der Reichsadler. Dahinter ein Rollwagen mit Schutzdach, in dem Luther saß, zusammen mit drei Begleitern. 

Das Gefährt hatte die Stadt Wittenberg zur Verfügung gestellt. Einige kursächsische Adlige waren von Worms aus dem Zug entgegengeritten und geleiteten ihn in die Stadt. Dort wurde Luthers Ankunft längst ungeduldig erwartet. Die Massen drängten sich entlang der Straße, um für einen kurzen Augenblick etwas von demjenigen zu erhaschen, der die Papstkirche im Alleingang herausgefordert hatte. Zweitausend Menschen sollen auf den Beinen gewesen sein.

Aleander, der päpstliche Nuntius, saß frierend in seiner kümmerlichen ungeheizten Kammer, wo er gerade an einem Brief an den päpstlichen Sekretär Guliu Medici feilte, den Neffen Papst Leo X., als er unten auf der Straße ein „heftiges Rennen des Volkes“ hörte: Martin Luther, „der große Ketzermeister“, hält triumphalen Einzug in der Stadt. „Ich schickte“, so Aleander in seinem Bericht, „einen meiner Leute aus, der mir hinterbrachte, daß ihm gegen hundert Reisige, vermutlich die Sickingens, bis an das Stadtthor das Geleit gaben. (…) Beim Verlassen des Wagens schloß ihn ein Priester in seine Arme, berührte dreimal sein Gewand an und berühmte sich im Weggehen, als hätte er eine Reliquie des größten Heiligen in Händen gehabt: ich vermute, es wird bald von ihm heißen, er tue Wunder. Dieser Luther, als er vom Wagen stieg, blickte mit seinen dämonischen Augen im Kreise umher und sagte: ‘Gott wird mit mir sein!’“

Luther war im Johanniterhof untergebracht. Wegen der allgemeinen Raumnot teilte er sich die Kammer mit zwei Beamten Herzog Friedrichs des Weisen. Worms zählte um 1520 an die 7.000 Einwohner, mußte aber während des Reichstags zusätzlich durchschnittlich 10.000 Einquartierungen verkraften. Lebensmittel waren rationiert und sämtliche Preise eingefroren, was eine exorbitante Teuerung nicht verhinderte. Die Stadt glich in Teilen einem riesigen Pferdestall, denn die hohen Herren und ihr zahlreiches Gefolge war beritten angereist. Es war ein Gipfel der Superlative: 80 Fürsten, 130 Grafen, 15 vortreffliche Gesandte ausländischer Könige und Herren, dazu die vielen Abgesandten der Städte sowie Händler aus dem gesamten Riesenreich, vor allem aus Spanien, den Niederlanden und Italien. Ein Sohn von Kolumbus, Hernando Colon, deckte sich auf dem Reichstag mit Büchern ein. Im Februar 1521 kam eine Gesandtschaft aus Djerba und sorgte wegen ihrer Totalverschleierung für einiges Aufsehen. Keine Nacht verging, daß nicht drei oder vier Menschen ermordet würden, notiert ein Chronist: „Es geht ganz auf römisch zu mit Morden, Stehlen und schöne Frauen sitzen in allen Gassen voll.“ 

Letztlich ließ Kaiser Karl V. das Verhör abbrechen

Am Mittwoch nachmittag, dem 17. April, holte Kaspar Sturm Luther aus seinem Quartier. Viele Wormser „stiegen auf die Dächer und Häuser, Doct. Martinum zu sehen“. Luther und Sturm verließen deshalb den Johanniterhof durch eine Hintertür, von wo aus sie in einen Garten gelangten und von dort durch einen Seiteneingang in den bischöflichen Palast, wo das Verhör stattfand. Der Narr sei mit lachender Miene eingetreten und habe in Gegenwart des Kaisers fortwährend den Kopf bewegt, hierhin und dorthin, auf und nieder“, berichtet Aleander. Beim Eintreten erkannte Luther den kaiserlichen Rat Konrad Peutinger, der weit vorne stand. Er begrüßte ihn fast kumpelhaft: „Doctor Peutinger, seid Ihr auch hier?“ Auch das ziemte sich nicht in Anwesenheit der hohen Herren. 

Laut eines spanischen Augenzeugen  „wurde ein Mensch vorgeführt, den man Martin Luther nannte, im Alter von 40 Jahren, etwas darüber oder darunter, derb von Körperbau und Antlitz mit nicht besonders guten Augen, die Mienen beweglich, die er leichtfertig wechselte. Er trug als Kleidung ein Gewand des Augustinerordens mit einem Ledergürtel, die Tonsur groß und frisch geschoren, das Haupthaar verschnitten, und zwar weiter als das gewöhnliche Verhältnis ist“, so der Chronist. „Der soll mich nicht zum Ketzer machen!“, soll Karl V., dem jugendlichen Kaiser, bei Luthers Anblick spontan entfahren sein.

Auf einer Bank lagen Luthers Werke aufgestapelt. Das Verhör führte Johann von Eck, der Offizial des Erzbischofs von Trier. Er redete Luther folgendermaßen an: „Martin Luther, Kaiser und Reich haben Dich hierher beschieden, damit Du ihnen sagest und erklärest fürs erste, ob Du diese Bücher da verfaßt habest.“ Bevor Luther antworten konnte, rief Hieronymus Schurf, Luthers Rechtsbeistand, dazwischen, die Titel sollten verlesen werden. Während das geschah, äußerte Karl V. vernehmbar und wiederholt, er glaube nie und nimmer, daß all diese Bücher von Luther verfaßt worden seien. – Sie waren es. 

Das Verhör verlief aus Sicht von Luthers Anhängern enttäuschend: Luther sprach viel zu leise und schien unsicher. Das reichspolitische Parkett war ihm erkennbar fremd. Außerdem hatte er gehofft, daß über seine Schriften disputiert werden würde. In der Rückschau faßte er diese erste Befragung wie folgt zusammen: „Sind die Bücher dein?“ – „Ja!“ – „Willstu sie widerrufen oder nicht?“ – „Nein!“ – „So heb dich!“ Luther erbat sich Bedenkzeit, die seine Majestät gnädig gewährte. Der Offizial gab ihm mit auf den Weg, „daß er gegen Seine Heiligkeit und gegen den Stuhl Petri geschrieben und viele ketzerische Lehren ausgestreut habe (…). Daraus aber sei ein solches Ärgernis entsprungen, daß, wenn man nicht schleunigst vorbeuge, ein Brand daraus entstehen werde, den zu löschen dann weder Luthers Widerruf noch kaiserliche Macht ausreichend sei; drum werde er hiermit ermahnt, seinen Sinn zu ändern.“ Darauf wurde Luther entlassen, ohne weiter gesprochen zu haben. „Beim Weggehen schien er nicht so heiter zu sein“, meldete Aleander gut gelaunt nach Rom.

Am Donnerstag, dem 18. April, wurde der Reformator gegen 17 Uhr wiederum von Kaspar Sturm abgeholt. Da der Kaiser und die Fürsten noch tagten, mußte er eine Stunde warten. Dann wurde er in den mit Fackeln beschienenen Saal geleitet. Es war heiß und Luther soll sichtbar geschwitzt haben. Wie schon am Vortag, eröffnete der Trierer Offizial als Orator das Verhör: „Vergeblich erwartest Du, Martinus, eine Disputation über die Dinge, die Du mit gewissem und ausdrücklichem Glauben zu glauben verpflichtet bist.“ Luther entschuldigte sich für seinen Auftritt am Vortage. Man möge ihm verzeihen, wenn er sich der gebührenden Ehrentitel nicht bediente. Er sei nun einmal nicht an fürstlichen Höfen erzogen, sondern in Mönchswinkeln. Seine Stimme klang diesmal klar vernehmbar und fest, er war sich seiner Sache sicher: „Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund widerlegt werde – denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht, da es feststheht, daß sie häufig geirrt und sich auch selbst widersprochen haben –, so bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte bezwungen. Und solange mein Gewissen durch die Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es unsicher ist und die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun. Ich kann nicht anders, hier stehe ich. Gott helfe mir, Amen.“ 

Der Kaiser, der das Gespräch mit Hilfe eines flüsternden Dolmetschers verfolgte, scheint hierauf befohlen zu haben, das Verhör abzubrechen. Die Weisung löste ein allgemeines Durcheinander aus und „ein groß Geschrei“. Der Spannungsabfall war mit Händen greifbar. Luther wurde entlassen. Im Freien riefen ihm spanische Reitknechte nach: „Ins Feuer, ins Feuer mit ihm.“ Als er in seine Herberge zurückgelangt war, reckte er beide Hände nach oben und rief erleichtert: „Ich bin hindurch, ich bin hindurch!“

Anthropozentrisches Weltbild rückt ins Zentrum

Tags darauf verlas Karl V. eine eigenhändig abgefaßte Rede, die etliche Reichsfürsten erblassen ließ, wie Aleander notiert, vor allem den sächsischen Kurfürsten, der aussehe wie ein fettes Murmeltier mit Hundeaugen. Karl V. hielt die Rede auf französisch, das er am besten sprach: „Ihr wißt, daß ich abstamme von den allerchristlichsten Kaisern der edlen deutschen Nation, von den katholischen Königen von Spanien, den Erzherzögen von Österreich, den Herzögen von Burgund, die alle bis zum Tode getreue Söhne der römischen Kirche gewesen sind (...). So bin ich entschlossen, festzuhalten an allem, was seit dem Konstanzer Konzil geschehen ist. Denn es ist sicher, daß ein einzelner Bruder irrt, wenn er gegen die Meinung der ganzen Christenheit steht, da sonst die Christenheit tausend Jahre oder mehr geirrt haben müßte.“

Karl V. formuliert, was wir heute als Schwarmintelligenz bezeichnen würden. Indes, Wahrheit wird nicht durch Abzählen ermittelt! Es braucht nur einen, der sie ausspricht. Die Argumentationsfigur des Kaisers gehört zur zeitlosen Montur der Macht, die in die Enge getrieben ist. Als Edward Joseph Snowden 2013 enthüllte, daß die US-amerikanische NSA entgegen der Verfassung von jedem Amerikaner Informationen sammelt, begründete er seinen unerhörten Schritt, der seiner bisherigen bürgerlichen Existenz ein jähes Ende setzte, mit seinem Gewissen. Daraufhin erklärte der damalige NSA-Direktor Michael Hayden: „Wenn Sie mich nach meinen Gefühlen fragen: Es war die Arroganz eines Einzelnen, der sich die NSA ansah und davon überzeugt war, daß sein eigenes juristisches und ethisches Urteilsvermögen größer ist als das seiner Kollegen, seiner Vorgesetzen, des Präsidenten, des Kongresses und der Justiz. (...) Snowden glaubt wohl, daß er moralisch überlegen ist. Daß er es besser weiß als alle anderen. Das ist ziemlich arrogant!“ 

Die Reformation ist die Initialzündung zur Freiheit. Für den Einzelnen markiert sie den Durchbruch hin zur Moderne insofern, als der entscheidende Schritt weg von einem theozentrischen hin zu einem anthropozentrischen Weltbild gewagt wurde. In der Vormoderne – ließe sich zugespitzt formulieren – kreiste die menschliche Existenz ausschließlich um Gott; in der Moderne zumeist um sich selbst. Auch das hat mit Luther zu tun. Die Idee der Freiheit als das „Recht, Zustimmung dort zu versagen, wo zuzustimmen das Gewissen verbietet“ (Thomas Morus), selbst wenn eine überwältigende Mehrheit dem entgegensteht, ist seit Luther der DNA des Westens eingeschrieben. Sie führt in direkter Linie zur Aufklärung, zu Immanuel Kant, David Hume, Jean-Jacques Rousseau sowie zur Amerikanischen und Französischen Revolution.






Dr. Georg Habenicht ist Kunsthistoriker und Autor des aktuellen Buches „Ablaß. Wertpapier der Gnade. Wie es zur Reformation kommen mußte (Michael Imhof Verlag 2020).