© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/21 / 16. April 2021

Konservativ und weltgewandt
Heiko Suhr hat eine bemerkenswerte Biographie Wilhelm Canaris’ auf dessen Weg zum Abwehr-Chef vorgelegt und widerlegt darin etliche Mythen
Jürgen W. Schmidt

Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte“, schrieb einst Friedrich Schiller über Wallenstein, und dasselbe ließe sich über den deutschen „Abwehr“-Chef Wilhelm Canaris (1887–1945) sagen. Waren frühe Canaris-Biographen wie etwa Karl-Heinz Abshagen bemüht, Canaris explizit als Vertreter des „anderen Deutschland“, als guten Patrioten, ja als eine Art Weltbürger darzustellen, neigten spätere Biographen dazu, hier maßgeblich Heinz Höhne, einer Heroisierung von Canaris kräftig entgegenzuwirken. Aus diesem Grund hat sich Heiko Suhr in seiner Dissertation grteift zur Erforschung des Lebensweges von Canaris auf die Primärquellen zurück. In erstaunlich reichem Maße ist er fündig geworden. Seine Darstellung der „Lehrjahre des Geheimdienstchefs“ umfaßt fast 600 Seiten. 

Demzufolge entstammt Canaris einem ursprünglich in der Lombardei ansässigen Kaufherrengeschlecht, welches im 17. Jahrhundert in Deutschland seßhaft wurde. Allen Spekulationen über eine etwaige griechische Herkunft, welche sogar Canaris persönlich pflegte, kann Suhr eine Absage erteilen. Aus einer großbürgerlichen Familie, welche fest im Montanbereich verankert war, ging Wilhelm Canaris hervor und erwählte für sich, ganz untypisch für seine Familie, eine Laufbahn als Marineoffizier. 

Obwohl Canaris, darin Feldmarschall Rommel gleichend, niemals eine Admiralstabsausbildung absolvierte, zeichnete er sich durch zähen Willen, Energie, Durchsetzungsvermögen sowie unermüdlichen Fleiß und Pflichtbewußtsein aus. Der Verfasser arbeitet heraus, wie stark dessen sehr speziell verlaufene Offizierskarriere den späteren Geheimdienstchef prägte. Im Gegensatz zur Masse seiner Kameraden diente der junge Canaris vor Kriegsausbruch 1914 fast ausschließlich auf im Ausland stationierten Kreuzern und lernte hier weltpolitisch zu denken, dabei von seinen ihn vorrangig als Adjutanten verwendenden Schiffskommandanten kräftig gefördert. 

Canaris stand auch Karriere als Marineoffizier offen

Hinzu kam das Interesse am Erlernen fremder Sprachen, denn Canaris sprach schließlich neben dem für Seeoffiziere üblichen Englisch auch Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch und besaß Russischkenntnisse. Doch hatte der junge, zurückhaltende, unprätentiös auftretende Offizier zugleich hohe ethische Standards und zeichnete sich als Vorgesetzter dadurch aus, daß er sich stets um das Wohlergehen seiner Unterstellten kümmerte. Gerade diese Anlage zur Durchsetzung hoher ethische Werte, bekräftigt später durch das Schicksal seiner ältesten Tochter, welche nach einer Kinderkrankheit geistig zurückblieb, ließ Canaris mit der nationalsozialistischen Ideologie in Konflikt geraten. Für Canaris gab es kein „lebensunwertes“ Leben. 

Heiko Suhr arbeitet gleichfalls heraus, daß Canaris zwar durch seine dienstlichen und charakterlichen Voraussetzungen letztlich in die Geheimdienstlaufbahn einschwenkte, als befähigter Marineoffizier aber auch in der Marine eine steile Karriere gemacht hätte. Immerhin befaßte sich der vormalige U-Bootkapitän Canaris zu Zeiten der Weimarer Republik eine Zeitlang mit der geheimen U-Boot-Rüstung, was ihn bei anderer Personalplanung durchaus zum „Dönitz“ der kommenden U-Bootflotte gemacht hätte. 

Ebenso hielt man den Kapitän zur See Canaris, welcher von 1932 bis 1934 das Linienschiff „Schlesien“ erfolgreich befehligte, für befähigt, zum Chef der Linienschiffsabteilung aufzusteigen, also einer der künftigen deutschen Flottenführer zu werden. Canaris, welcher sich durch sein politisches Urteil, seine Sprachkundigkeit und Weltläufigkeit durchaus von den anderen Marineoffizieren seines Ranges unterschied, wurde gleichfalls als möglicher Chef des Marinebildungswesens betrachtet. Doch entschied ein Zufall seine Karriere und letztlich sein Schicksal. „Abwehr“-Chef Conrad Patzig, gleichfalls ein Marineoffizier, hatte sich 1934 in heftige Gegensätze mit anderen NS-Geheimdiensten verwickelt, und um diese Widersprüche zu glätten (und um seinen Platz für einen Marineoffizier zu erhalten), wählte man Canaris als neuen Abwehrchef aus.  

Hätte Suhr noch ein Kapitel angefügt, welches aufzeigt, wie der neue „Abwehr“-Chef Canaris sowohl die Abwehr reformierte und gleichzeitig die Konflikte mit Gestapo und SD glättete, wäre sein Buch vollkommen „rund“ gewesen. Doch auch so hat Heiko Suhr ungemein viel dafür getan, die um Canaris gesponnenen Mythen zu zerschlagen, etwa in Verbindung mit dem Luxemburg-Liebknecht-Mord, bei mit welchem er als Verbindungsoffizier zu Reichswehrminister Gustav Noske fälschlich als geistiger Hintermann wurde. Zukünftig wird man bei der Betrachtung von Canaris nicht an der Maßstäbe setzenden Canaris-Biographie von Suhr vorbeigehen können.

Heiko Suhr: Wilhelm Canaris. Lehrjahre eines Geheimdienstchefs (1905–1934). Wachholtz Verlag, Kiel 2020, gebunden, 600 Seiten, 49,90 Euro