© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Streit um Infektionsschutzgesetz
Freiheitsrechte aus dem Vollautomat
Dieter Stein

Die Nerven liegen in vielen Familien blank. Seit einem Jahr sitzen Kinder überwiegend zu Hause. Durch monatelangen Videounterricht und geschlossene Sportstätten leiden sie unter Bewegungsmangel, Abstumpfung und Lagerkoller. Parallel sind immer mehr Betreiber von Gaststätten, Hotels, Sportstudios, ein Großteil der Veranstaltungs- und Kulturbranche buchstäblich am Ende.

Immer verzweifelter fragen sich die Bürger: Wann hören diese Einschränkungen endlich auf? Wobei sie unverändert gespalten sind, was die Gefahreneinschätzung der Corona-Pandemie angeht. Denn entsetzt sind nicht wenige über grassierende Sorglosigkeit und sich ausbreitende Anarchie im öffentlichen und privaten Raum. Hinein in diese brisante Stimmung trifft das neue Infektionsschutzgesetz mit der „Bundes-Notbremse“. Nachdem vor Ostern die Ministerpräsidentenrunden in Kompetenzgerangel und Chaos endeten, zieht der Bund jetzt die Entscheidungsgewalt an sich.

Gut ist, daß der Bundestag endlich Ort der Entscheidung ist und nicht die im Grundgesetz institutionell nicht vorgesehene Ministerpräsidentenrunde mit Bundeskanzlerin. Schlecht ist, daß der in Deutschland bewährte Föderalismus ausgehöhlt wird, indem der Bund Kompetenzen okkupiert, die nicht dort hingehören: Nicht zuletzt bei der im Gesetz definierten Frage der Schulschließungen. 

Juristen streiten sich darüber, ob sich Bürger schneller und leichter gegen die auf Länderebene entschiedenen Maßnahmen vor Verwaltungsgerichten wehren konnten als künftig nur vor dem Bundesverfassungsgericht. Hier kommt nämlich der Faktor Zeit ins Spiel: Dauern Einsprüche vor dem Bundesverfassungsgericht von vornherein länger als vor Verwaltungsgerichten? Erledigen sich die Dinge also mit dem Bundesgesetz alleine schon durch Zeitablauf?

Wegen der einzig auf umstrittenen „Inzidenzwerten“ fußenden willkürlichen Maßnahmen ist es dringend notwendig, daß durch Verfassungsbeschwerden die Rechtmäßigkeit geklärt und die Tragweite der Grundrechtseingriffe möglichst scharf begrenzt werden. Es wird nicht nur den Freiheitsrechten der Bürger, sondern auch dem Rechtsfrieden dienen, wenn dies nunmehr höchstrichterlich geklärt wird. Hauptangriffspunkt ist bei der Notbremse übrigens der Automatismus für die Anordnung flächendeckender Freiheitseinschränkungen – einen Mechanismus, den es noch nie gegeben hat. 

Es steht zu befürchten, die „Bundes-Notbremse“ könnte als Blaupause dienen, um nach ihrem Muster auch bei anderen vermeintlichen „Notlagen von nationaler Tragweite“ Grundrechte einzuschränken. Zum Beispiel in der Klimapolitik. Das Bundesgesetz erinnert die Bürger aber auch, wo die gesetzgebende Gewalt liegt: beim Parlament. Und über dessen Zusammensetzung stimmen wir im Herbst ab.