© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Die K-und-K-Frage
Bundestagswahl: Union und Grüne haben ihren jeweiligen Spitzenkandidaten gekürt – fast zeitgleich, und doch liegen Welten dazwischen
Christian Vollradt

Um exakt 0.34 Uhr in der Nacht von Montag auf Dienstag traf bei Journalisten eine Kurznachricht aus dem Berliner Konrad-Adenauer-Haus ein. „Ergebnis der geheimen Abstimmung: 46 Personen waren stimmberechtigt. Davon entfielen auf Armin Laschet: 31, Markus Söder: 9 , Enthaltung: 6“. Damit stand fest, daß der Bundesvorsitzende der CDU vom Vorstand seiner Partei als Kanzlerkandidat der Union nominiert worden ist. Weil der Rivale aus München vor Beginn der kurzfristig anberaumten abendlichen Online-Sitzung nunmehr konkreter angekündigt hatte, solch ein Abstimmungsergebnis der Schwesterpartei anzuerkennen. 

„Die Würfel sind gefallen. Armin Laschet wird Kanzlerkandidat der Union“, bestätigte der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident knapp zwölf Stunden später noch einmal öffentlich. Das hatten manche – auch die JUNGE FREIHEIT – vorschnell schon eine Woche zuvor vermeldet. Und tatsächlich hatte sich im Prinzip nichts geändert. Außer daß die Union, vor allem die CDU, durch das nervenzehrende Gezerre, den in die Länge gezogenen Machtkampf der beiden Vorsitzenden fast zerrissen worden wäre. Vergessen all die Schwüre: nie dürfe es wieder soweit kommen wie 2018, als im Streit um die Folgen der Migrationspolitik von Bundeskanzlerun Angel Merkel der Bruch der gemeinsamen Bundestagsfraktion nur mit Müh und Not abgewendet werden konnte. 

Daß Söder das vergangene Woche abgegebene Votum von CDU-Vorstand und Präsidium pro Laschet nicht als Entscheidung der gesamten Schwesterpartei akzeptiert hatte, führte die CDU an den Rand einer inneren Spaltung. Zu verlockend erschien vielen Christdemokraten das Argument der wie ein Mann hinter ihrem Vorsitzenden stehenden bayerischen Schwesterpartei: Kandidat sollte werden, wer die besseren Chancen hat. Und die besseren Chancen hat, wer besser in den Umfragen dasteht. Also Söder. 

In der Bundestagsfraktion waren dafür all jene anfällig , die kein sicheres Direktmandat oder keinen guten Listenplatz erwarten dürfen. Ebenso viele konservativere Mitglieder an der Basis, in den neuen Bundesländern – und vor allem in Sachsen-Anhalt, wo als nächstes gewählt wird. 

Laschet wiederum blieb stur, behielt die Nerven und überschritt so den Punkt, an dem er noch hätte gesichtswahrend dem bayerischen Herausforderer den Vortritt hätte lassen können. Dem engeren Führungszirkel der CDU war klar: Wenn Laschet verliert, ist er als frisch gewählter Parteichef schon wieder irreparabel beschädigt. Daraus folgte, daß er nur in eine Abstimmung gehen kann, die er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gewinnt. Also nicht in der Bundestagsfraktion und auch nicht an der Basis, etwa auf Ebene der Bezirks- oder Kreisvorsitzenden. 

Nachdem die „guten Gespräche“, die Laschet und Söder die Woche über geführt hatten, kein Ergebnis brachten und das faktische Einigungs-Ultimatum am vergangenen Sonntag verstrichen war, lud der in die Bredouille geratene CDU-Chef den Bundesvorstand überraschend zur Onlinesitzung am Montag abend. Zu Beginn rief Laschet „zur offenen Diskussion auf“. Die Söder-Unterstützer berufen sich auf die Wünsche der Basis in ihren Verbänden; mancher, wie Berlins Landeschef Kai Wegner, regt eine Verschiebung der Abstimmung an. Doch Laschet kontert: „Wir sollten heute entscheiden, wie wir es uns am Anfang vorgenommen haben.“ Nach stundenlangem Hin und Her steht das eingangs erwähnte Ergebnis fest. Die Granden hatten sich mit ihrem Bekenntnis zugunsten des Nordrhein-Westfalen durchgesetzt. 

Selten fühlte sich ein Sieg so sehr wie eine Niederlage an, eine Niederlage wie ein Sieg. Und während CSU-Löwe Söder tags darauf wie ein Kätzchen schnurrte („Jetzt kommt es darauf an, zusammenzustehen“) und die Zusammenarbeit im Bundestagswahlkampf anbot, als sei nchts gewesen, schäumen viele an der Basis. „Ich bin gespannt, ob der Bundesvorstand auch Plakate selber aufstellt und Wahlkampf vor Ort macht oder ob das dann die Basis machen darf, die eben noch völlig egal war. So ignorant, verantwortungslos und egoistisch wie Herr Laschet hier agiert – wenn schon die eigene Partei nicht vollständig mitzieht, warum sollten es die Wähler tun“, kommentierte ein enttäuschtes Mitglied auf der Facebook-Seite der CDU.

Das Kontrastprogramm zur Selbstzerfleischung der C-Partei lieferten ausgerechnet die Grünen. Wenn in der politischen Gesäßgeographie links für den unbedingten Wunsch nach möglichst viel Mitbestimmung, für unorgansiertes Palaver und disziplinloses Chaos steht, rechts dagegen für Autorität und Gefolgschaft, für Führung und Gehorsam sowie für das Entscheiden der Wenigen samt schweigender Zustimmung der Vielen, dann gerierte sich die Union so linksradikal wie ein Kreuzberger Kinderladen und die Grünen strammrechts wie eine Fallschirmjäger-Kameradschaft.

Perfekt choreographiert präsentierte Parteichef Robert Habeck exakt nach Terminplan am Montag vormittag die Kanzlerkandidatin: Annalena Baerbock. Damit ließ der ehemalige stellvertretende Ministerpräsident von Schleswig-Holstein seiner Mit-Vorsitzenden, die über keine ministerielle Erfahrung verfügt und nie Teil einer Regierung war, den Vortritt. Platz eins, soviel Tradition muß sein, gebührt bei den Grünen der Frau.

„Freundlich präsentierte Fassade“

Diese Entscheidung scheint der harmonischen Ko-Existenz des Führungsduos – keine Selbstverständlichkeit bei der einst revoluzzernden Öko-Basisdemokratiepartei – nichts anzuhaben. Realos gegen Fundis, Reformer gegen Linke? Die Flügelkämpfe haben offenbar Pause. Der Grund liegt auf der Hand: Die Regierungsverantwortung in Berlin ist zum Greifen nah und alle haben offenbar das gemeinsame Interesse, zuzuschnappen. Inhaltlich und personell wolle man um die politische Führung in Deutschland kämpfen, hatten die Grünen bereits vor einem Monat verkündet, als sie ihren Programmentwurf vorstellten.

Darin haben sie die – offenkundigen – Zumutungen mundgerecht und appetitlich verpackt, damit keinem Wähler der Brocken quer zu liegen kommt, Stichwort „50 Milliarden Euro zusätzlich für die sozial-ökologische Transformation“ (JF 13/21). Bloß kein Verbotspartei-Veggie-Day-Desaster wie einst, das die Wahlchancen kurz vor knapp verhagelt ...

Für den Fraktionsvorsitzenden der AfD, quasi die politische Antipode der Grünen, ist Baerbock damit auch die „freundlich präsentierte Fassade“ der Partei, so Alexander Gauland in einer ersten Reaktion auf die Nominierung am Montag. Er hoffe, die Wähler würden das „wahre Gesicht“ dahinter erkennen. „Denn das Programm, das diese Partei vorlegt, ist darauf ausgerichtet, Deutschland in allen Bereichen schwerste und irreparable Schäden zuzufügen“, ist der AfD-Politiker überzeugt, eine grün dominierte Bundesregierung würde „unserem Land noch mehr staatlichen Zwang und Unfreiheit bescheren und zu einer weiteren Zerstörung von Wohlstand, Innerer Sicherheit und gesellschaftlichem Zusammenhalt führen.“

Daß die Grünen einen Kandidaten für das Kanzleramt aufbieten, ist eine Premiere in der gut 40jährigen Geschichte der Partei. Doch schon einmal hatten die Grünen unter dem Eindruck enormer Popularitätswerte auf ähnliche Weise mit Traditionen gebrochen, die eigentlich zu ihrer parteipolitischen DNA zu gehören schienen. Im Januar 2002 machten die Grünen Joschka Fischer zu ihrem Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl im September desselben Jahres. Damit hatten sie nicht nur ihre heilige Kuh Doppelspitze geschlachtet, sondern auch erstmals bundesweit eine gemeinsame Galionsfigur nominiert. Zuvor sah man stets mit Verachtung auf die politischen „Schönheitswettbewerbe“ der etablierten Konkurrenz herab. Nun lautete die Parole: Popularität des Kandidaten in Prozentpunkte umsetzen. 

So auch jetzt. Die 40jährige Baerbock, in Hannover geborene Neu-Brandenburgerin, die seit 2018 die Partei gemeinsam mit Habeck führt, steht nach eigenen Worten für „eine Politik, die vorausschaut, die etwas Neues wagt“, und „die bei aller Notwendigkeit, harte Entscheidungen zu treffen, menschlich und empathisch bleibt“. Formal muß die Entscheidung der Grünen-Spitze noch auf einem Partei­tag im Juni bestätigt werden. Daß die Dele­gier­ten das Ergeb­nis bestä­ti­gen, gilt als sicher. Immerhin hatten die Brandenburger Grünen Baerbock am Wochenende bereits nahezu einstimmig auf Platz eins ihrer Landesliste für den Bundestag gesetzt. 

„Mit der Macht flirtet man nicht, die Macht heiratet man“, konstatierte einmal der französische Schriftsteller André Malraux, der erst Kommunist und dann Minister unter de Gaulle war. Die Grünen, soviel steht fest, sind endgültig bereit, auf dem Standesamt der Bundespolitik laut und deutlich „Ja!“ zu sagen. Die Union, könnte man meinen, bereitet sich dagegen auf ein Single-Dasein vor. 





Merz macht’s

Immerhin ein CDU-Politiker aus Nord-rhein-Westfalen hat am Wochenende Rückenwind verspürt. Zwölf Jahre nach seinem Ausscheiden aus der Politik ist der ehemalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Friedrich Merz auf dem Sprung zurück in den Reichstag. Rund 72 Prozent der Delegierten haben ihn zum Direktkandidaten im Hochsauerlandkreis gewählt. Der Wahlkreis gilt als schwarze Hochburg, die der 65jährige vier Legislaturperioden von 1994 bis 2009 in Berlin vertreten hatte. Bei der Aufstellungsversammlung am vergangenen Samstag setzte sich Merz mit 327 zu 126 Stimmen gegen seinen Konkurrenten Patrick Sensburg durch. Es sei schön, mal wieder eine Wahl gewonnen zu haben, scherzte der Sieger, der zweimal vergeblich als CDU-Chef kandidiert hatte. Gegenüber seiner Partei sparte Merz nicht mit Kritik: „Die CDU hat ihren Kompaß verloren, die Wähler wissen nicht mehr, wofür wir eigentlich stehen.“