© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Bis hierhin und nicht weiter
Infektionsschutzgesetz I: Juristen und Opposition äußern verfassungsrechtliche Bedenken an der „Bundesnotbremse“
Jörg Kürschner

Es sind Drohungen wie diese, die Staatsbürger erzürnen und Staatsrechtler erschrecken. „Es ist nicht unser Ziel, in private Wohnungen zu gucken, aber auf dem Weg dahin kann ich Menschen erwischen“, versuchte Thomas Kutschaty, SPD-Oppositionschef im Düsseldorfer Landtag, seine Mitmenschen einzuschüchtern. Damit rechtfertigte der Ex-Justizminister die vom Bund initiierte nächtliche Ausgangssperre als wirksames Mittel, um Menschen von privaten Treffen abzuhalten. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte bundeseinheitlich geregelte Ausgangssperren forciert, nachdem entsprechende Pläne in den Bund-Länder-Gesprächen gescheitert waren. Auf diese Weise soll die dritte Welle der Pandemie gebrochen werden. Bisher wurden die Corona-Einschränkungen von den Landesregierungen per Verordnung beschlossen. Künftig sollen die Maßnahmen automatisch gelten, sobald der Inzidenzwert in einem Landkreis drei Tage lang über 100 liegt. 

Selbst im Kanzleramt gibt es erhebliche Vorbehalte 

Verfassungsrechtliche Bedenken von Juristen sowie harsche Kritik aller Oppositionsfraktionen und auch aus den eigenen Reihen hatten die Regierungskoalition in letzter Minute bewogen, ihren Entwurf für die sogenannte „Bundesnotbremse“ leicht zu mildern. Nächtliche Ausgangsverbote soll es demnach zwischen 22.00 Uhr und 5.00 Uhr statt bereits ab 21.00 Uhr geben. Bis 24 Uhr darf man auch ohne Hund draußen spazierengehen oder Sport treiben, aber nur alleine. Außerhalb dieser Zeiten ist das Verlassen der Wohnung nur aus beruflichen Gründen und in Notfällen erlaubt. 

Während der ersten Lesung im Bundestag hatte FDP-Chef Christian Lindner wegen der Ausgangsverbote eine Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz angekündigt. Der Gang nach Karlsruhe ist erst einmal zurückgestellt. Jetzt stehen Änderungsanträge im Vordergrund. Aber: „Trotz leichter Verbesserungen könne man noch nicht zustimmen“, sagte er kurz vor der Schlußabstimmung. AfD-Vize-Bundessprecher Stephan Brandner nannte die Änderungen einen „faulen Kompromiß“, so daß es bei der Ablehnung bleibe. Koalitionsvertreter wie etwa SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich zeigten sich überzeugt, daß der geänderte Entwurf „der Überprüfung auf Seiten der Gerichte standhalten kann“. 

Sie verwiesen darauf, daß nicht nur der Bundesrat wie ursprünglich vorgesehen, sondern auch der Bundestag einer Notbremse-Verordnung der Regierung aktiv zustimmen muß. Neu sei auch, daß das Gesetz zunächst bis Ende Juni befristet ist. Das heißt aber, die Beschränkungen gelten noch etwa neun Wochen.

Die nie dagewesene Grundrechtseinschränkung hat zahlreiche Juristen auf den Plan gerufen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages bemängelte, das „Bevölkerungsschutzgesetz“ unterscheide nicht zwischen geimpften und nicht geimpften Menschen. „Notwendige Ausnahmen für Geimpfte fehlen und müßten ergänzt werden“. Der Inzidenzwert allein sei für Ausgangssperren nicht ausreichend, es brauche „zumindest einen weiteren Wert“, um das Gesetz „weniger angreifbar“ zu machen, heißt es in dem Gutachten. 

Selbst im Kanzleramt gibt es erhebliche Vorbehalte gegen das Vorhaben. Aus dem Referat Gesundheitspolitik warnte Susanne Jaritz Kanzleramtschef Helge Braun (CDU), generelle Ausgangssperren seien mit Blick auf „Verhältnismäßigkeit“ und „derzeit nicht belegte Wirksamkeit“ problematisch und vor Gericht als rechtswidrig eingestuft. Die ehemalige Richterin am Landessozialgericht Hessen verwies auf ein entsprechendes Urteil des Oberverwaltungsgerichts Niedersachsen. Die Gesellschaft für Aerosolforschung (GAeF) hatte in einem Schreiben an das Kanzleramt darauf hingewiesen, „es sei extrem unwahrscheinlich, daß man sich draußen ansteckt“. Sebastian Schmitt: „Der Anteil von Infektionen liegt an der frischen Luft im Promillebereich“. 

Nach Ansicht des Rechtswissenschaftlers Ulrich Vosgerau (siehe Interview unten) hat das Gesetz mit einer klassischen Gefahrenabwehr nichts zu tun, sondern sei eine Notstandsgesetzgebung. Mit Blick auf die Einschränkung des Klageweges zum Bundesverfassungsgericht gehe es wohl darum „die Oberverwaltungsgerichte auszuschalten“, sagte er in der Anhörung des Bundestagsgesundheitsausschusses. Die Kritik wurde von den Rechtsexperten der Koalition aufgegriffen. In ihrem Änderungsantrag wird darauf hingewiesen, Bürger könnten auch eine präventive Feststellungsklage zu den Verwaltungsgerichten erheben, wenn sie die Regeln für unverhältnismäßig streng halten. Von sieben Verfassungsrechtlern sprachen sich in der Anhörung nur zwei für den Gesetzesentwurf aus, darunter der Jenenser Rechtswissenschaftler Michael Breuer, der die Ausgangssperre als „verhältnismäßig“ bezeichnete, diese aber aus Praktikabilitätsgründen auf 22 Uhr verschieben wollte. 

Ganz anders dagegen Thorsten Kingreen von der Universität Regensburg. Ohne Ausnahmen für Geimpfte seien Ausgangsverbote für Kläger „ein Elfmeter vor dem Verfassungsgericht“. Am vergangenen Mittwoch sollte das Gesetz in zweiter und dritter Lesung beraten und verabschiedet werden, einen Tag später der Bundesrat zustimmen und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier es unterschreiben. Voraussichtlich an diesem Wochenende oder Anfang nächster Woche könnte die Bundesnotbremse in Kraft treten.