© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

„Das ist der Ausnahmezustand“
Infektionsschutzgesetz II: Der Staatsrechtler Ulrich Vosgerau hat die wichtigsten Kritikpunkte bei einer Anhörung im Bundestag vorgetragen
Moritz Schwarz

Herr Dr. Vosgerau, Sie haben als Experte im Bundestag Ihre verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Infektionsschutzgesetz (IfSG) vorgetragen. Was beunruhigt Sie?

Ulrich Vosgerau: Es gibt etliche Punkten, in denen das neue IfSG möglicherweise mit dem Grundgesetz kollidiert. Drei sind besonders wichtig. Wobei ich mich beim ersten noch nicht durchgesetzt habe, heißt, die „herrschende Meinung“ in der Staatsrechtslehre sieht das offenbar bislang ganz anders. 

Liegt es dann nicht nahe, daß Sie irren?

Vosgerau: Nein, nicht zwingend. Oft ist gerade die herrschaftskritische Mindermeinung von heute die herrschende Meinung von morgen. Denken Sie an die Sondervoten von Verfassungsrichtern wie Böckenförde und Mahrenholz – heute sind die längst kanonisch! 

Wie lautet nun Ihr Widerspruch? 

Vosgerau: Die Mehrheit meint, die bisherige Pandemiegesetzgebung sei juristisch im Grunde nichts Neues, da schon immer Grundrechte zur Gefahrenabwehr eingeschränkt wurden. Die Einschränkungen – „durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes“ – müßten nur verhältnismäßig sein. Und angesichts beispielloser Pandemiegefahren derzeit seien intensive Grundrechtseingriffe legitim. Was wir jedoch seit einem Jahr erleben, hat allzuwenig mit dem zu tun, was man seit den Tagen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts unter „Gefahrenabwehr im Rechtsstaat“ verstanden hat. 

Nämlich? 

Vosgerau: Diese Grundrechtseingriffe richten sich millionenfach und dauerhaft, bewußt und gewollt, gegen Leute, die gar nicht im Verdacht stehen, das Virus zu verbreiten. Fast ausschließlich sind es also sogenannte Nichtstörer, deren Grundrechte man einschränkt. Und nun sage ich: das ist der Notstand, oder auch der Ausnahmezustand! Nur ist der im Grundgesetz nicht vorgesehen.

Wieso? Es gibt doch bereits den „polizeirechtlichen Notstand“. 

Vosgerau: Ja, aber nur in Ausnahmefällen, kurzzeitig und mit Entschädigungspflicht, die unabhängig davon ist, ob der Eingriff rechtmäßig oder rechtswidrig war. Jetzt aber sind die Grundrechtseinschränkungen „das“ Mittel der allgemeinen Gefahrenbekämpfung. 

Warum ist das verfassungswidrig, wenn der Staat doch gewisse Gründe hat, einschneidende Maßnahmen zu verhängen.

Vosgerau: Vielleicht wäre es sinnvoll, eine Art „viralen Ausnahmezustand“ im Grundgesetz vorzusehen. Fakt ist aber, derzeit kennt das Grundgesetz keinen Notstand oder Ausnahmezustand. Außer im Verteidigungsfall, und den haben wir nicht. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat in seiner legendären Freiburger Antrittsvorlesung 1979 darauf hingewiesen, daß dies ein Defizit des Verfassungsrechts sein könnte. Aber geschehen ist seitdem nichts.

Was ist Ihr zweiter Punkt?

Vosgerau: Die „Inzidenz“. Schon das Wort ist eigentlich sprachlich falsch: „Inzidenz“ hieße „das Auftreten der Krankheit“ – die positiv Getesteten sind aber meistens symptomfrei und gesund.

Sie beruht auf dem unzuverlässigen PCR-Test. Aber ist das schon grundgesetzwidrig? 

Vosgerau: Ja, da er nur Bruchstücke der Virus-RNS nachweist, die nicht reichen, um zu erkranken oder anzustecken. Zudem erhöht sich die „Inzidenz“ mit der Zahl der Getesteten. Sie gibt also nicht deren Prozentsatz an, obwohl es darauf viel eher ankommt! Auf so unsicherer Faktenlage sind massive Grundrechtseingriffe kaum verfassungsmäßig. Schließlich vermute ich, wahres Ziel des IfSG ist, die Oberverwaltungsgerichte auszuschalten. 

Warum das?

Vosgerau: Wer gegen eine Pandemieverordnung vorgehen will, kann Normenkontrolle beim Oberverwaltungsgericht oder Verwaltungsgerichtshof anstrengen, was nicht selten erfolgreich ist. So kippte das Oberverwaltungsgericht Lüneburg die Ausgangssperre in Hannover. Kommt das IfSG, braucht es aber eine Verfassungsbeschwerde, die ein viel schwächeres Rechtsmittel ist! Da sie zur Entscheidung „zugelassen“ werden muß, ist sie in Wahrheit eher ein Gnaden- denn ein Rechtsmittel – auch wenn das schon wieder so nicht im Lehrbuch steht. 






Dr. Ulrich Vosgerau ist habilitierter Staats-, Völker- und Europarechtler. Er lehrte Öffentliches Recht in Köln, München, Hannover, Passau, Halle-Wittenberg sowie als Gastdozent in Polen.

 www.ulrich-vosgerau.de