© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Endlich raus
Afghanistan: Weil die Amerikaner abziehen, verläßt auch die Bundeswehr das Land / „Längst gescheitert“
Peter Möller

Als am 2. Januar 2002 die ersten deutschen Soldaten in der afghanischen Hauptstadt Kabul landeten, konnte keiner von ihnen ahnen, daß die Bundeswehr noch mehr als 19 Jahre später in dem Land am Hindukusch stationiert sein würde. Auch die deutschen Politiker der damaligen rot-grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), die Ende 2001 unter dem Eindruck der Terroranschläge in den Vereinigten Staaten vom 11. September 2001 die Entscheidung für die Beteiligung der Bundeswehr am Kampf gegen den Terror getroffen hatten, hätten vermutlich die Vorstellung eines jahrzehntelangen Engagements in Afghanistan empört zurückgewiesen.

Nun, nach fast 20 Jahren, in denen 59 deutsche Soldaten während des Einsatzes fern der Heimat ihr Leben gelassen haben und viele Milliarden Euro Steuergelder später, steht der Rückzug der Bundeswehr unmittelbar bevor. Mit der Ankündigung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden, die amerikanischen Truppen bis zum 20. Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September aus Afghanistan abzuziehen, ist bei den anderen Truppenstellern der internationalen Allianz, darunter Deutschland, ein Abzugsautomatismus in Gang gekommen. In der vergangenen Woche beschloß der Nato-Rat, die Truppen des Bündnisses ebenfalls noch in diesem Jahr zurückzuziehen. Derzeit sind noch rund 1.100 deutsche Soldaten in Afghanistan stationiert.

Das oberste Ziel sei es, alle Soldaten und zivilen Mitarbeiter gesund und sicher in ihre Heimat zurückzubringen. „Darauf sind wir vorbereitet“, heißt es im Tagesbefehl von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer zum Afghanistanrückzug. „Verläuft alles nach Plan, werden bereits Mitte August alle deutschen Kräfte Afghanistan verlassen.“ Die Ministerin kündigte an, zusätzliche Kräfte zu schicken, um den Abzug zu sichern. „Die Bundeswehr verläßt Afghanistan mit Stolz. Unsere Soldatinnen und Soldaten haben alle Aufträge erfüllt, die das Parlament ihnen gegeben hat“, sagte Kramp-Karrenbauer.

Dabei nimmt sich die militärische Bilanz des langjährigen Einsatzes in Afghanistan äußerst bescheiden aus. Zwar gelang der Bundeswehr zusammen mit ihren Verbündeten, die Taliban mehr oder weniger nieder- und damit von der direkten politischen Macht fernzuhalten – doch ein militärischer Sieg über die Islamisten war niemals in greifbarer Nähe.

Dennoch: Der Kampfeinsatz in Afghanistan hat die Bundeswehr grundlegend verändert. Sie hat in Afghanistan etwas gesammelt, was ihr bisher (abgesehen von den Erfahrungen der Weltkriegsteilnehmer der Gründungsphase) fehlte: Kampferfahrung. Diese existentiellen Erfahrungen, wie etwa beim berüchtigten Karfreitagsgefecht 2010, bei dem drei Bundeswehrsoldaten gefallen sind und acht verwundet wurden, gehen weit über das persönliche Erleben der einzelnen Soldaten hinaus und schlagen sich in Vorschriften, Taktik, Ausbildung und Materialbeschaffung nieder. Und in der Sprache: Bevor die Bundeswehr nach Afghanistan ging, war das Wort Krieg selbst für Kampfeinsätze der Truppe in Berlin tabu. Stattdessen sprach man lieber von „robusten Mandaten“ und Stabilisierungsmissionen. 

Erst im März 2010 brach der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) dieses Tabu und sagte, man könne mit Blick auf den Einsatz in Afghanistan „umgangssprachlich von Krieg“ reden. Ähnlich vierhielt es sich mit der Bezeichnung „Gefallene“ für die bei den Kämpfen mit den Taliban getöteten deutschen Soldaten. Als Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CSU) 2008 bei der Trauerfeier für einen in Afghanistan getöteten Soldaten erstmals von „gefallenen“ Truppenmitgliedern sprach, sorgte er damit in der Öffentlichkeit für Aufsehen und Diskussionen. Heute spricht die Bundeswehr ganz selbstverständlich von ihren Gefallenen.

„Von Anfang an keine realistische Vorstellung“

Die Reaktionen im politischen Berlin auf die Rückzugsankündigung waren von Erleichterung geprägt. Keine der Parteien stellte nach der Ankündigung des Rückzugs aus Afghanistan diese Entscheidung in Frage. Dennoch unterschieden sich die Äußerungen teilweise sehr deutlich. So versucht die Union, die aus ihrer Sicht erzielten Erfolge herauszustellen. „Das Hauptziel, daß Afghanistan nicht wieder ein Rückzugsort für internationale Terroristen ist, wurde erreicht“, sagte der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Jürgen Hardt. Auch im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und humanitären Bereich seien erhebliche Fortschritte erzielt worden. 

Ähnlich äußerte sich die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die ebenfalls auf Errungenschaften wie die Verbesserung der Lage der Frauen in Afghanistan verwies: „Es wäre fatal, wenn Afghanistan in einer Nachkriegsordnung wieder in mittelalterliche Zustände zurückfallen würde.“

Ganz anders schätzt die AfD-Fraktion die Lage ein: „Der Afghanistan-Einsatz ist bereits seit langem gescheitert. Bis zuletzt hat die Bundesregierung an völlig utopischen Zielen festgehalten und dafür deutsche Soldaten und Steuergelder in Milliardenhöhe geopfert“, kritisierte ihr verteidigungspolitischer Sprecher, Rüdiger Lucassen. Die Sicherheit der deutschen Soldaten beim Abzug müsse jetzt oberste Priorität haben. „Sollte dazu die kurzfristige Entsendung von Kampftruppen notwendig sein, wird dies von der AfD-Bundestagsfraktion unterstützt.“

Als das Parlament im März das aktuelle Mandat für die Unterstützungsmission „Resolute Support“ um zehn Monate bis Januar 2022 verlängert hatte, stimmte die größte Oppositionsfraktion dagegen. Sie wirft der aktuellen Bundesregierung und ihren Vorgängern vor, über keine vernünftige „Exit“-Strategie zu verfügen. Das wird mit der jetzigen Entscheidung deutlich, so kurz nach dem Verlängerungsbeschluß. Ausschlaggebend für die 180-Grad-Wende sei der – schon länger absehbare – Abzug der Amerikaner. „Zusammen rein, zusammen raus“, so die Parole. Etwas anderes bleibt der Bundeswehr auch nicht übrig, da sie und ihre europäischen Partner ohne amerikanische Unterstützung am Hindukusch mit seiner prekären Sicherheitslage nicht überlebensfähig wären. Unterdessen kündigte Kramp-Karrenbauer an, für weitere Einsätze der Bundeswehr Schlußfolgerungen aus dem knapp 20 Jahre dauernden Engagement zu ziehen. „Es gibt Lehren für uns zu ziehen – mit allem, was gelungen und nicht gelungen ist.“ Zugleich warnte sie davor, allzu strenge Maßstäbe bei der Beurteilung der in Afghanistan erzielten Ergebnisse anzulegen: „Natürlich hat sich Afghanistan nicht in einen Modellstaat nach europäischem Vorbild entwickelt. Ich glaube, man muß auch sehr offen sagen: Das war von Anfang an keine realistische Vorstellung“, sagte Kramp-Karrenbauer. 

Wurde 2007 der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck noch verlacht, als er forderte, die westlichen Truppen-Entsender müßten „gemäßigte Taliban“ einbinden, so beruht der nun beschlossene Abzug exakt auf solchen Verhandlungen. Unübersehbar ist, wie die militanten Koranschüler große Teile des Landes längst wieder dominieren. Daß die hehren Ziele wie Demokratisierung und der Aufbau eines funktionsfähigen Staates mit einer nicht-korrupten Verwaltung in Afghanistan gescheitert sind, liegt auf der Hand. In Bundeswehrkreisen geben sich viele jedoch auch hinsichtlich anderer „Erfolge“ desillusioniert. Die Afghanische Nationalarmee (ANA) sowie die Polizei seien unzuverlässig und könnten sich gegen die Milizen der örtlichen „Warlords“ kaum behaupten, ist zu hören. Ausnahme seien die Spezialeinheiten. 

Ein Veteran resümiert, für den deutschen Afghanistan-Einsatz stehe die „Mischa-Meier-Brücke“ bei Kundus geradezu symbolhaft. Weil eine noch von den Sowjets errichtete Brücke marode war, mußte die Bundeswehr mit ihren Fahrzeugen den Kundus-Fluß anfangs durch eine Furt queren. Dabei wurde der deutsche Hauptfeldwebel Mischa Meier 2008 durch eine Sprengfalle getötet. Die mit deutscher Hilfe errichtete neue Brücke wurde nach dem Gefallenen benannt, der mutmaßlich nicht gestorben wäre, hätte man sie früher fertiggestellt. Wenige Jahre nachdem die Bundeswehr aus Kundus abgezogen war, wurde die Brücke wieder zerstört. 





Afghanistan

Zusammen rein, zusammen raus: Wenn die Amerikaner zum 11. September 2021 Afghanistan verlassen, zieht auch Deutschland seine Soldaten nach 20 Jahren ab. Über 90.000 Bundeswehrsoldaten dienten bisher dort, manche mehrfach. Zur Zeit sind es noch 1.035, hauptsächlich als Berater und Ausbilder für afghanische Sicherheitskräfte. Der Kampfeinsatz der Bundeswehr endete 2014. Ingesamt 59 deutsche Soldaten ließen am Hindukusch ihr Leben, davon fielen 35 durch Fremdeinwirkung. Finanziell schlug das Unternehmen bisher mit 12,156 Milliarden Euro zu Buche. (vo)