© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Lifestyle-Linke, hört die Signale!
Sahra Wagenknecht: Die Linke ist Gegnerin einer Politik für skurrile Minderheiten / „Niemand unterstützt Parteien, von denen er sich sozial im Stich gelassen und kulturell verachtet fühlt“, schreibt sie in ihrem neuen Buch
Fabian Schmidt-Ahmad

Noch ein halbes Jahr bis zur Bundestagswahl. Zeitgleich wählen Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern ihre Parlamente, beides Hochburgen der Linkspartei. Wohlplaziert also die Bombe, mit der Sahra Wagenknecht den Flügelkampf in ihrer Partei offiziell eröffnet hat. Und mit Sprengkraft hat sie auch nicht geknausert. Ihr Buch „Die Selbstgerechten“ ist eine ebenso ätzende wie unterhaltsame Abrechnung mit der übermächtigen Strömung der identitären Linken, die längst auch die einstige DDR-Staatspartei vereinnahmt hat.

„Der Lifestyle-Linke lebt in einer anderen Welt als der traditionelle und definiert sich anhand anderer Themen“, stellt Wagenknecht fest. „Es ist immer das gleiche Milieu, das sich versammelt“ – und zwar das mit Privilegien. Ihre Vertreter leben in wohlbehüteten und gut begüterten Verhältnissen, in denen sie Muße finden, sich über die Schlechtigkeit der Welt zu empören. Es ist eine „Selbstgerechtigkeit, mit der man uneinlösbare Forderungen formuliert und jeden moralisch ächtet, der sie zu kritisieren wagt“.

Ging es der traditionellen Linken um eine Verbesserung der konkreten sozialen Verhältnisse, so ist das der identitären Linken einerlei. Entsprechend harmonisch ist ihr Verhältnis zum Großkapital, von dem sie mehr oder weniger offen ausgehalten wird. Statt dessen geht es ihr um Sprachkontrolle. „Hintergrund dieser Manie war eine philosophische Theorie, die in den sechziger Jahren von französischen Professoren entwickelt wurde und in der These gipfelte, daß der Mensch mittels Sprache die Realität nicht beschreibt, sondern schafft.“

Aneignung der sprachlichen Produktionsmittel

Statt Aneignung der industriellen Produktionsmittel sind nun also die sprachlichen das Ziel. Doch zu welchem Zweck? Der traditionelle Linke braucht das Kollektiv zur politischen Gestaltung. Hier aber wird nicht gestaltet, sondern angeklagt: „Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendwelcher Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch erheben, ein Opfer zu sein.“

Für Parteifreunde, die über diesen Mechanismus ihre Karriere vorantreiben, ist das nicht schmeichelhaft. „Bin wütend!“ schimpfte Fraktionskollege Niema Movassat auf Twitter. „Mein Vater hat in Deutschland als Ingenieur wegen Herkunft keinen Job bekommen, mußte als Taxifahrer arbeiten. Das war keine ‘Marotte’, keine gewählte Opferrolle, sondern Rassismus!“ Schlimm! Das muß Movassat unbedingt den zahlreichen Iranern in Deutschland erzählen, die hier ihr Ingenieursstudium absolvieren – gefördert von den „Rassisten“.

Auch Hannah Harhues, ohne identitäre Neurosen wohl ein normales Mädchen, ist empört: „Ich stehe hier und kandidiere auf Platz eins, weil ich es nicht akzeptiere, als queere Person von Sahra in ihrem Buch als Teil einer ‘skurrilen Minderheit’ mit ‘Marotten’ beleidigt zu werden“, begründete sie ihre Kampfkandidatur gegen Wagenknecht um den NRW-Listenplatz für den Bundestag. Natürlich verlor sie, aber identitären Linken geht es um Haltung. Und zumindest hier stimmte Wagenknechts These, daß diese keine Mehrheiten bekommt.

Weltweit reüssieren rechte Parteien, für Wagenknecht ist das nicht Folge eines angeblichen „Rechtsrucks“, sondern Reaktion auf linke Klientelbewirtschaftung. „Wo alle Parteien jenseits der Rechten sich weigern, die aus überzähliger Migration resultierenden Probleme auch nur anzuerkennen und statt dessen die Opfer wütend moralisch verurteilen, überlassen sie es eben dieser Rechten, den Tenor und Tonfall vorzugeben“, kritisiert sie. „Niemand unterstützt Parteien, von denen er sich sozial im Stich gelassen und kulturell verachtet fühlt“.

Und wo steht Wagenknecht selbst? Ihre Kritik entspringt ganz dem republikanischen Ethos. Also für Grenzsicherung, für ein einheitliches Wertefundament der Freien und Gleichen. „Ein Mehr an Demokratie und sozialer Sicherheit“, so Wagenknecht, ist „nur durch mehr nationalstaatliche Souveränität zu haben.“ Damit hat sich die „rote Sahra“ das gleiche Dilemma eingehandelt, mit dem sich linke Theoretiker seit Karl Marx herumschlagen – wie hältst du es mit der Nation?

Einerseits ist sie reaktionärer Ausdruck der kapitalistischen Besitzverhältnisse, die es auf dem Weg in den klassen- und grenzenlosen Weltkommunismus zu überwinden gilt. Andererseits ist der Nationalstaat die einzige Größe, bei der die Überwindung von Standesunterschieden und die Organisation der Masse als handelndes politisches Subjekt tatsächlich funktioniert hat. Entsprechend gerät Wagenknecht hier schnell ins Schlingern.

„Nationale Identitäten und Zusammengehörigkeitsgefühle haben natürlich nichts mit Genen, Blutsbanden und Abstammungsgemeinschaften zu tun“, behauptet Wagenknecht. Um dann gleich festzustellen: „Nationen entstehen durch eine gemeinsame Kultur und Sprache, durch geteilte Werte, gemeinsame Traditionen, Mythen und Erzählungen, aber auch durch eine gemeinsame politische Geschichte“. Nation ist mal Konstruiertes, mal Gewachsenes – Uneindeutigkeiten wie diese machen es innerparteilichen Gegnern leicht, sie zu desavouieren.

Doch wenn sich Wagenknecht 2016 auf einen Streitdialog mit der damaligen AfD-Parteichefin Frauke Petry einließ und das Ergebnis „ein rechtes Konsensgespräch“ war, wie eine schockierte taz titelte, so stellt sich schon die Frage, wo der Unterschied ist.

Die 1969 in Jena geborene Tochter eines iranischen West-Studenten und einer Kunsthändlerin ist zwar Aushängeschild ihrer Partei, doch innerparteilich nicht unumstritten. Als alle anderen vor der Staatspartei flüchteten, trat sie im Sommer 1989 in die SED ein, war kurz Mitglied im Parteivorstand. Doch als kompromißlose Kommunistin inklusive Beobachtung durch den Verfassungsschutz stellte Parteichef Gregor Gysi sie kalt. Ein Muster, das sich in Wagenknechts Karriere wiederholen wird: Sehr populär, aber an die Spitze schafft sie es nicht.

Nie war sie Parteichefin, immer nur Stellvertreterin. Auch in der Fraktion ist sie zunächst Vize, bis sich Platzhirsch Gysi 2015 zurückzieht und sie gemeinsam mit Dietmar Bartsch eine Doppelspitze bildet. Doch auch nur bis 2019, als sie sich ausgelaugt zurückzieht. Im Kontrast zu innerparteilichen Kämpfen steht ihre öffentliche Bekanntheit. Diese nutzt sie 2018 für die linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“, die Wähler von der AfD zurückgewinnen wollte.

AfD-Politiker äußern Interesse

Doch erneut zeigte sich der Wagenknecht-Effekt. Trotz großen Zuspruchs wiesen Sozialdemokraten, Grüne und sogar ihre eigene Partei der Bewegung eher die kalte Schulter. Dagegen äußerten ausgerechnet AfD-Politiker Interesse für das Projekt. Was wieder zur Ausgangsfrage nach dem substantiellen Unterschied führt, wenn AfD-Kreisverbände – zum großen Ärger Wagenknechts – ihre Zitate im Wahlkampf verwenden. Für sie liegt dieser Unterschied in deren restriktiver Sicht auf den Sozialstaat.

„Die AfD etwa stimmt im Bundestag regelmäßig gegen eine Erhöhung von Hartz IV, gegen höhere Mindestlöhne oder gegen eine wirksame Deckelung der Mieten“. Wagenknecht dagegen vertritt eine etatistische Sicht, soziale Probleme durch staatliche Umverteilung in den Griff zu bekommen, was zwangsläufig eine höhere Steuerbelastung nach sich zieht.

Ironischerweise setzt sie aber damit genau auf den Mechanismus, der historisch zur Herausbildung der identitären Linken geführt haben dürfte. Denn wenn der Staat von der kapitalistischen Überflußgesellschaft immer mehr Vermögen abschöpft, das es zu verteilen gilt, dann gewinnt die Gruppe mit der lautesten, schrillsten und profiliertesten Opfererzählung. Die tatsächlichen Opfer werden von diesen organisierten Beutegreifern dagegen verdrängt. Die soziale Rechte verzichtet darauf, dieses Karussell weiter zu drehen. Stattdessen setzt sie auf die Leistungsbereitschaft des Arbeiters, Angestellten, Selbstständigen, die keine Geschenke haben wollen, sondern gute Arbeitsbedingungen.

Zu diesen gehört ganz wesentlich, daß der einzelne von seiner Arbeit nicht nur sich, sondern auch seine Frau und Kinder ernähren kann. Und nicht den Lebensstandard von Menschen finanziert, die, wenn sie seine Existenz überhaupt zur Kenntnis nehmen, nur in Form von Verachtung. Wo Wagenknecht und andere Linke in diesem sich zuspitzenden Konflikt stehen werden, müssen sie mit sich selbst ausmachen.

Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Campus-Verlag, Frankfurt/Main 2021, gebunden, 345 Seiten, 24,95 Euro

 www.sahra-wagenknecht.de