© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

„Angriffe auf die Demokratie“
Europäisches Polizeiamt Europol: Warnende Worte zur wachsenden Macht der organisierten Kriminalität
Curd-Torsten Weick

Unterstützt vom Europäischen Polizeiamt (Europol) schlugen 150 Polizeibeamte der spanische Nationalpolizei (Policía Nacional) gleichzeitig in den südspanischen Städten Algeciras und La Linea de la Concepción bei Gibraltar sowie der spanischen Exklave Ceuta und in Madrid zu. Im Visier: ein Schleusernetzwerk, das illegale Migranten nach Spanien lotst. Ergebnis des Europol-Aktionstages Ende März: Bei sechs Hausdurchsuchungen von spanischen und marokkanischen Staatsangehörigen wurden 20 Verdächtige verhaftet. Ihnen wird nicht nur die Schleusung von Migranten zur Last gelegt, sondern auch vier Morde im Zusammenhang mit dem Tod von Migranten, die während einer Überfahrt ertrunken waren.

Gute Geschäfte mit gefälschten Masken

Die Verdächtigen schmuggelten marokkanische Staatsangehörige auf verschiedenen, zum Teil gestohlenen Booten durch die Straße von Gibraltar. Die Migranten, hauptsächlich junge Personen und oft minderjährig, zahlten etwa 2.500 Euro pro Person für die Schmuggeldienste.

Ortswechsel. Auf Ersuchen der Interregionalen Spezialisierten Staatsanwaltschaft Lille (JIRS) in Frankreich haben Strafverfolgungsbehörden in Deutschland und Luxemburg bei vierzehn Hausdurchsuchungen am 23. März vier Mitglieder einer kriminellen Gruppe verhaftet, die im Verdacht steht, ihre Erlöse aus dem Drogenhandel zu waschen. Bei der Razzia wurden vier Immobilien im Wert von mehreren Millionen Euro und hochwertige Fahrzeuge beschlagnahmt, mehrere Bankkonten mit einem Guthaben von 187.000 Euro eingefroren sowie 26.000 Euro Bargeld beschlagnahmt. 

Einzelfälle? Mitnichten. Catherine De Bolle, Europol-Exekutivdirektorin, schlug bei der Vorstellung des aktuellen Berichts über die Bedrohungslage im Bereich der Organisierten Kriminalität in der EU (EU SOCTA) 2021 Alarm:

„Ich bin besorgt über die Auswirkungen der schweren und organisierten Kriminalität auf das tägliche Leben der Europäer, das Wachstum unserer Wirtschaft und die Stärke und die Widerstandsfähigkeit unserer staatlichen Institutionen. Ich bin auch besorgt über das Potential dieser Phänomene, die Rechtsstaatlichkeit zu untergraben.“ Das in der SOCTA 2021 präsentierte Informationsbild sei eine deutliche Erinnerung an einen „dynamischen und anpassungsfähigen“ Gegner, betonte die belgische Juristin. 

Vor allem die Coronavirus-Pandemie könne das organisierte Verbrechen in Europa über Jahre hinaus anheizen. „In der Anfangsphase sahen wir einen Anstieg im Handel mit gefälschten Gesichtsmasken und Handdesinfektionsmitteln. Jetzt sehen wir einen Anstieg im Handel mit gefälschten Impfstoffen und Heimtest-Kits“, erklärte De Bolle gegenüber AFP.

Auch der Drogenhandel, so die Belgierin weiter, heize die Korruption in der gesamten EU an, die „jeden vom Hafenarbeiter bis zum Politiker“ betreffe und in fast drei Viertel aller schweren Verbrechen vorkomme. „Noch nie dagewesene Mengen an Kokain werden aus Lateinamerika in die EU geschmuggelt“, so De Bolle. „Kriminelle töten unschuldige Opfer im Kreuzfeuer, ermorden Journalisten und Anwälte in direkten Angriffen auf unsere Demokratien“, fügte die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson bei der Vorstellung des Berichts in Lissabon hinzu. Laut Kommission beliefen sich die Einnahmen aus der organisierten Kriminalität im Jahr 2019 auf 139 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Europol mit seinen 1.000 Mitarbeitern und 220 Verbindungsbeamten verfügte 2020 über ein Budget von 175 Millionen Euro.

„Wir sind an der Belastungsgrenze angelangt“

Die Pandemie hat nach Europol-Angaben, auch durch die schnell fortschreitende Digitalisierung der Gesellschaft und der Wirtschaft, die Cyberkriminalität erhöht. Gerade „kritische Infrastrukturen“ würden dabei ins Visier von Cyberkriminellen geraten. Vor diesem Hintergrund wies Europol darauf hin, daß man im Januar das „gefährlichste“ Cybercrime-Malware-Tool der Welt, das vor allem vom organisierten Verbrechen genutzt worden sei, gestoppt hätte.

Neben dem Kokain- und Cannabishandel, der Herstellung und dem Vertrieb von synthetischen Drogen, Cyberkriminalität, dem „kontinuierlichen Anstieg“ von Aktivitäten in bezug auf sexuellen Kindesmißbrauch im Internet und der perfekt organisierten Eigentums­kriminalität hat sich auch der Markt für Schleuserdienste etabliert. 

Laut Europol werden in einigen der instabilsten Regionen mit hohem Bevölkerungsanstieg „wirtschaftliche Entbehrungen, Konflikte und der Klimawandel“ als wichtige Push-Faktoren forciert weiterwirken. „Darüber hinaus werden die mittel- und langfristigen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und politischen Folgen der globalen Covid-19-Krise die Migration nach Europa anheizen und wahrscheinlich die Nachfrage nach Vermittlungsdiensten“ steigern, so Europol. 

Als Erfolg verweist der Europol-Bericht auf die Festnahme von 23 Mitgliedern eines irakischen Migranten-Schmuggelnetzwerkes durch französische und niederländische Strafverfolgungsbehörden im Januar 2020. Es hatte rund 10.000 illegale afghanische, iranische, irakische und syrische Migranten aus den Regionen Le Mans und Poitiers via Lkw nach Großbritannien geschleust. Die Migranten zahlten bis zu 7.000 Euro für die Reise. Die Zahlungen wurden über ein verdecktes, von den Niederlanden aus betriebenes islamisches Hawala-Bankensystem abgewickelt. Die Gewinne dieses Schleusernetzwerks beliefen sich laut Europol auf rund 70 Millionen Euro.

Auf die Frage, ob die Strafverfolgungsbehörden den Kampf gegen die Kriminellen verlieren, betonte De Bolle gegenüber AFP: „Wir sind an der Belastungsgrenze angelangt.“ 

Wenige Tage nach der Europol-Präsentation erklärte die EU-Kommission, daß sie den Kampf gegen die organisierte Kriminalität forcieren werde. „Unsere Strategie umfaßt ein fünfjähriges Programm zur Stärkung der europäischen Strafverfolgung in der physischen und der digitalen Welt. Mit Hilfe der Maßnahmen können wir von anlaßbezogener zu dauerhafter polizeilicher Zusammenarbeit übergehen und Geldströme nachvollziehen, um Straftäter durch Finanzermittlungen zu stellen“, betonte Kommissarin Johansson. Ziel sei eine „bessere Zusammenarbeit in der Strafverfolgung und Justiz“. Bis 2023 soll vor allem das „Zusammenspiel der Informationssysteme für Sicherheit, Grenzmanagement und Migrationssteuerung“ verbessert werden. Schließlich schlägt die Kommission vor, ein Kooperationsabkommen mit Interpol auszuhandeln.